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Der Aufstand der Gesichtslosen
Samstagnachmittag: An der Leopoldstraße in der Nähe der Scientology-Zentrale München steht eine mit Masken verkleidete Gruppe und verteilt Kuchen. Einige von ihnen halten Transparente, auf denen steht: „Scientology ist gegen Kritik. Seid kritisch!“ Andere verteilen Flugblätter. Alle tragen Masken. Diese Proteste finden einmal im Monat weltweit in Großstädten statt. Die Gruppe „Anonymous“ hat sich dem Kampf gegen Scientology verschrieben. Aber eigentlich ist es gar keine Gruppe. . . jetzt.muenchen hat mit zwei von ihnen gesprochen.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Wisst ihr eigentlich voneinander, wie ihr wirklich heißt? Anon2: Mittlerweile ja. Anon1: Notgedrungen. Ich bin ja auch derjenige, der die Demos anmeldet. Das geht anonym nun mal nicht. Mein Name ist mittlerweile überall zu finden. Auch für Scientologen. Ihr demonstriert einmal im Monat vor der Scientology-Zentrale an der Münchner Freiheit. Warum? Anon1: Bei mir war der Auslöser die Zensierung des Tom-Cruise-Videos. Anon2: Ich kannte Scientology schon vorher, aber ich fand es erschreckend, wie fanatisch dieser Tom Cruise auf einmal redete. Noch schlimmer aber war, was dann folgte. Das Video tauchte Anfang des Jahres auf. Was passierte dann? Anon1: Das Video wurde vom Netz genommen. Es wurde von Scientology zensiert. Anon2: Kurz darauf aber tauchte es wieder auf. Unter dem Pseudonym „Anonymous“ luden viele Menschen das Video wieder hoch. Anon1: Ich habe mir im Netz dann von Anonymous „Message to Scientology“ angesehen. Das hat mich fasziniert. Im April bin ich dann zum ersten Mal auf die Demonstration gegangen. Die ganze Anonymous-Bewegung ist also erst mit dem Tom-Cruise-Video entstanden? Anon1: Ja. Zumindest das Projekt „Chanology“. Das bündelt die Aktivitäten gegen Scientology. Anon2: Anonymous kämpft auch gegen Zensur; und Scientology beschäftigt eine ganze Armada an Juristen, die den ganzen Tag nichts anderes tun, als wegen angeblicher Copyright-Verletzungen online stehendes Material zu zensieren. Wie läuft so eine Demo genau ab? Anon1: Einmal im Monat treffen wir uns vor der Scientology-Zentrale an der Leopoldstraße, klären Passanten auf und machen den Scientologen deutlich, dass wir für sie da sind, wenn sie aussteigen. Anon2: Eigentlich ist das aber eine sehr lustige Veranstaltung. Es gibt Kuchen, wir hören Musik – zum Beispiel „Never gonna give you up“ von Rick Astley – und wir haben einfach Spaß. Je mehr Spaß wir haben, desto schlechter für sie. Wie reagieren Passanten auf euch? Anon2: Auch das ist ganz unterschiedlich. Manche sagen: Super, weiter so! Anon1: Manche wollen uns auch die Masken abkaufen. Und Scientology? Anon1: Sie drangsalieren uns, wo sie nur können. Inklusive fliegender Eier. Einmal wurden wir sogar von einer Scientologin nach der Demo verfolgt. Anon2: Ein anderes Mal waren wir auf einer KVPM-Austellung. . . KVPM? Anon2: Die „Kommission für Verstöße der Psychiatrie gegen Menschenrechte“. Das ist eine Tarnorganisation von Scientology. Anon1: Scientology verteufelt ja jede Art von Psychiatrie und Psychopharmaka. Anon2: Dort haben wir demonstriert. Ein Scientologe hat daraufhin versucht, einen Anon zu verprügeln. Auf der nächsten Seite: Warum Anonymous gerade diese Maske trägt
Ihr tragt auf den Demonstrationen alle dieselbe Maske, um anonym zu bleiben. Wessen Gesicht ist das eigentlich? Anon1: Das ist Guy Fawkes. Bekannt aus dem Film „V wie Vendetta“, in der der Protagonist gegen ein totalitäres System kämpft und genau diese Maske trägt. Anon2: Aber das ist auch persönliche Interpretation. Es gibt bei uns auch andere Masken. Ziel ist es eben, anonym bleiben zu können. Verstoßt ihr damit nicht gegen das Vermummungsverbot? Anon1: Das ist kein Problem. Wir geben unsere Identitäten vorher bei der Polizei bekannt und die löscht sie nach der Demo wieder. Anon2: Wir möchten unsere Identität ja nicht vor der Polizei oder dem Staat schützen, sondern vor Scientology. Mittlerweile kommen auch Scientology-Aussteiger zu den Demonstrationen. Anon2: Für die ist die Anonymität besonders wichtig: Scientology hat in der Vergangenheit oft Rufmord-Kampagnen gegen Kritiker gestartet. Außerdem haben manche Familienmitglieder in der Organisation, die dann unter Druck gesetzt werden können. Seit Anfang dieses Jahres protestiert Anonymous weltweit monatlich gegen Scientology. Wie lange wollt ihr das machen? Gibt es ein Ziel? Anon1: Wir wollen Leute über Scientology informieren. Anon2: Letztlich ist es eine persönliche Sache des Einzelnen. Aus der Protestbewegung hat sich mittlerweile ein Verein „marcab e.V.“ gebildet, der Aussteiger unterstützt. Andere verwalten unsere Internetportale, machen Übersetzungsarbeit oder kümmern sich um die PR. Das ist ganz unterschiedlich. Ist die Anonymous-Bewegung per se gegen Scientology? Würdet ihr auch gegen andere Art von Zensur protestieren? Anon2: Vor allem richten wir uns gegen Internetzensur und sind für eine freie Informationsverbreitung. Das Projekt „Chanology“ richtet sich aber ausschließlich gegen Scientology. Anon1: Anonymous selbst bedeutet nichts anderes als Anonymität im Internet. Niemand kann beurteilen, wohin sich das entwickeln wird. Steckt darin nicht auch großes negatives Potenzial? Angeblich sollen auch Myspace-Seiten von Schwulen und „Emos“ von Anonymous gehackt worden sein. . . Anon1: Unter „anonym“ kann sich jeder verstecken. Das ist es ja. Es gibt nicht die Leute von Anonymous. Anon2: Das lässt sich einfach nicht festmachen. Scientology hatte im März eine Liste mit so genannten „Hate Crimes“ von Anonymous veröffentlicht. Das ist absurd! Anon1: Es gibt auch keine Anonymous-Organisation. Anon2: Wir sind ja keine Gruppierung. Klingt ein bisschen paradox. . . Anon1: Einen Minimalkonsens gibt es. Aber es kann immer passieren, dass Leute die Anonymität ausnutzen. Wir befassen uns mit Scientology. Also wird wohl kaum jemand aus unserer Protestbewegung Myspace-Seiten verunstalten. Anon2: Unser Protest richtet sich im Übrigen auch nicht gegen den Glauben der Scientologen, sondern gegen die Scientology-Organisation und ihre fragwürdigen Praktiken. Glauben kann jeder, was er will, solange er niemand schadet.
Text: philipp-mattheis - Foto: Holly Pickett