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"Den Wulff haben sie noch nicht geschickt"
An der Wand hängt noch das Bild von Horst Köhler. Der ist zwar seit vergangenem Sommer nicht mehr im Amt, aber: „Den Wulff haben sie noch nicht geschickt“, sagt Jörg Braun. Der 61-jährige Kapitän-Leutnant a.D. ist seit acht Jahren leitender Regierungsdirektor des Kreiswehrersatzamts München und womöglich wird er das Bild des neuen Bundespräsidenten gar nicht mehr aufhängen. Denn das Amt in der Dachauer Straße, in dem in den vergangenen 29 Jahren etwa 300.000 junge Münchner gemustert wurden, hat keine große Zukunft vor sich.
„Wir befinden uns in einer schweren Zeit“, sagt Braun, „in der wir nicht wissen, wo es langgeht.“ Am 3. Januar 2011 wurden die letzten Wehrpflichtigen eingezogen. Ende der allgemeinen Wehrpflicht soll offiziell der 1. Juli sein. Zur Zwangsmusterung wird seit Anfang des Jahres niemand mehr geladen. Es ist also nicht viel los. „Gerade ist ein Feldwebel im Haus, der für eine Auslandsverwendung untersucht wird“, zählt Braun vor. Am Morgen war ein freiwilliger Zivi da. Gemustert wird nur noch, wer will: zum freiwilligen Grundwehr- oder Zivildienst, zum freiwilligen zusätzlichen Wehrdienst, als Reservist zu Wehrübungen, als Zeitsoldat. Für März und April stehen zwei Musterungen in Brauns Kalender.
Hinter dem Schreibtisch des Direktors lehnt eine mannshohe Deutschlandflagge schlaff an der Wand. Die Urkunden, Abzeichen, Poster von Kriegsschiffen und in Vitrinen gelagerte Wappen vermitteln den Eindruck eines Militärmuseums.
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149 Menschen arbeiten im Kreiswehrersatzamt. Angestellte, Soldaten, weniger als die Hälfte sind Beamte. 68 Prozent Frauen. Direktor Braun zeigt deren Arbeitsplatz: ein Labyrinth aus engen Treppenhäusern und Fluren im Halogenlicht. Er wirkt dabei wie ein Museumsführer, der möglichst umfassend die Geschichte eines Ortes erzählen und bewahren will, bevor dieser in Vergessenheit gerät: Das Münchner Kreiswehrersatzamt ist ein massives Bauensemble aus den Siebziger Jahren, es ist drei Mal so groß wie ein normales Kreiswehrersatzamt, zuständig für die gesamte südbayerische Region.
„Wenn es um einen Baum geht, macht die Stadt einen Tanz. Aber wenn es um 2000 Bäume geht“
Jörg Braun blickt aus dem Fenster. Der Nebel hängt starr in den Baumkronen. Ab und an passieren dunkel uniformierte Gestalten die Wege dazwischen. „Wenn es um einen Baum geht, macht die Stadt einen Tanz. Aber wenn es um 2000 Bäume geht“ – er unterbricht sich selbst. Was er meint: Bekommt München den Zuspruch für die Olympischen Winterspiele 2018, wird das Amt samt umliegendem Park – und den Bäumen darin – abgerissen. Hier entstehen dann Wohnungen fürs Olympische Dorf.
Eine Mitarbeiterin schlurft zwischen den Archiv-Regalen hervor, sie trägt eine Handbreit Papier und grüßt Direktor Braun leise. Hinter ihr lagern über 70.000 Akten, die Chronik einer Amtszeit. „Das sind jede Menge Dokumente, die noch nicht elektronisch geführt werden.“ Der Direktor sagt, seine Hauptaufgabe sei es jetzt, die Mitarbeiter des Kreiswehrersatzamtes möglichst sinnvoll zu beschäftigen.
Kristin Kinitz ist eine davon. Sie hat vor einem halben Jahr die Ausbildung zur medizinischen Fachangestellten abgeschlossen und arbeitet im ärztlichen Dienst des Amtes. Kristin ist 19 Jahre alt. Hinter ihrem Arbeitsplatz hängen Plakate, Typ „Bundeswehr im Einsatz“, daneben vergilbte Poster von Sandstränden, die Kristin nicht kennt und die sie nicht angebracht hat. Ein Stapel Akten liegt auf ihrem Schreibtisch. „Man sucht sich Arbeit“, sagt sie. Heute sieht sie alte Akten durch, prüft, ob die Daten schon im Rechner sind und ob die Papiere entsorgt werden können. Im Nebenraum sind die Kittel sorgfältig gefaltet, das Audiometer von Auritec und der Sehzeichenprojektor von Rodavist sind mit trüben Schutzhüllen abgedeckt. Zwei mit Urin gefüllte Pappbecher stehen auf einer kalten Arbeitsfläche, bereit für das Drogen-Screening. „Heute untersuchen wir zwei bis drei Leute pro Tag. Vorher waren es etwa 70.“ Überlegt sie, sich eine andere Stelle zu suchen? „Ich bin schon am Schauen. Ich bin die Jüngste, deshalb.“
„Meine Arbeit ist weg. Es gibt sie nicht mehr.“
Zimmer 053, „Allgemeine Wehrersatzangelegenheiten“. Rosalinde Kolb spricht niederbayerischen Dialekt, der oft durch ein knarrendes Lachen unterbrochen wird. Am 1. April wird sie 40 Jahre bei der Bundeswehr sein. Ihr Blick trifft das Telefon. Früher sei sie wirklich ausgerastet, lacht sie. Heute klingelt das Telefon höchstens zwei Mal am Tag. Rosalinde Kolbs Arbeit bestand darin, die Ladungen zur Musterung vorzubereiten und zu verschicken. „Meine Arbeit ist weg. Es gibt sie nicht mehr.“
Neun Seiten Papier, beschrieben mit je 40 Zeilen Namen und Adressen, liegen vor ihrer Tastatur. Auf den Blättern stehen die Kontaktdaten von Abiturienten im Raum München. „Die frage ich, ob sie nicht freiwillig wollen.“ Dafür lockt die Bundeswehr mit Bonuspunkten für Studienplätze und dem Angebot, nach 23 Monaten im freiwilligen Wehrdienst ein kostenfreies „Schnupperstudium“ an einer Bundeswehr-Universität zu absolvieren. So steht es auf dem Formular, das Rosalinde Kolb in der Hand hält. „Es gibt keine Geheimnisse“, sagt sie. Es gibt nur Unklarheiten. Wie ein Sprecher des Verteidigungsministeriums bestätigt, wird es Kürzungen geben. In welchem Ausmaß das die Kreiswehrersatzämter betrifft, ist noch nicht entschieden. Das Amt in München ist eine von 59 Musterungsstellen in Deutschland, die sich seit Beginn des Jahres in einem geisterhaften Schwebezustand befinden.
Weit und leer ist der Flur vor Zimmer 053. Eine auf A4 gedruckte Clip-Art-Hand gibt mit dem Zeigefinger die Richtung an: Rechts geht es zu den Anmelderäumen, die in der Vergangenheit nahezu jeder junge Mann im Münchner Umkreis einmal im Leben betreten musste. In den Wartehallen hängen Poster, die über Kosmonautentrainings informieren. Auf dem Tisch liegen Broschüren und Zeitschriften, ordentlich gestapelt. „Bundeswehr der Zukunft“ steht auf einer. „Bitte nicht benutzen! Schränke sind DEFEKT“, steht am Spind. Alle zehn Stühle stehen frei. Dumpf hört man ein knarrendes Lachen. An dem Schild, das eine der Wartehallen ankündigt, hängt noch Weihnachtsschmuck. Jemand hat ihn vergessen an diesem Ort, der jetzt schon Vergangenheit ist.
Text: jurek-skrobala - Fotos: Juri Gottschall