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Das rote Spielzeug-Auto und die große Wirkung
Ich habe eine Nachricht von der Plattenfirma EMI. Sie steht prominent in der Mitte meines Computer-Bildschirms. Weiß auf schwarz an der Stelle, wo bei YouTube sonst die Filme abgespielt werden, lese ich: „Dieses Video enthält Content von EMI. Es ist in deinem Land nicht mehr verfügbar.“ Wenige Klicks und ein paar Suchminuten später entdecke ich den Clip doch. Ich sitze noch immer am gleichen Ort, sehe aber jetzt einen jungen Mann, der sich eine Schutzbrille aufsetzt und anschließend mit einem roten Spielzeug-Auto eine Reihe Dominosteine zum Fallen bringt. Das Video ist in meinem Land offenbar doch verfügbar. Ich sehe, wie die Dominosteine eine Bowlingkugel in Bewegung setzen, die über eine kleine Rampe rollt und nach wenigen Metern ein LP-Cover umstößt. Diese Kettenreaktion geht etwa vier Minuten lang so weiter. Kugeln rollen, Kartons fallen um und ein Bildschirm geht zu Bruch. Dazwischen sieht man immer wieder die Mitglieder der amerikanischen Band OK Go, die ihr neues Lied „This Too Shall Pass“ singen und am Ende der Kettenreaktion mit gelber, grüner, roter und blauer Farbe übergossen werden.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Fast wirkt es so als wollten die vier Musiker mit diesem gefilmten Versuchsaufbau in einer Garage in Los Angeles nicht nur ihr neues Album bewerben. Sänger Damian Kulash, Andy Ross, Tim Nordwind und Dan Konopka scheinen vielmehr eine Nachricht für ihre Plattenfirma EMI zu haben. Sie wollen ihr zeigen: Kleine Dinge – wie das rote Spielzeug-Auto am Beginn des Videos – können große Wirkung haben. Die Musiker von OK Go wissen das aus eigener Erfahrung. Die Videoclips, die sie zu ihren Songs „Here It Goes Again“ (2006) und „A Million Ways“ (2005) drehten, machten die vier Jungs aus Chicago weltberühmt. Millionenfach wurde angeschaut, weitergeschickt und verlinkt, wie Damian, Andy, Tim und Dan in Damians Hinterhof tanzten oder sich rhythmisch auf Laufbändern bewegten. Keine Band der Welt hat das Prinzip des Internets, das Marketingmenschen gerne „viral“ nennen, derart perfekt eingesetzt, wie OK Go. Jetzt wird ausgerechnet ihr neuester Clip eingesperrt. Wenn Plattenfirmen das Abspielen von Musikvideos für einzelne Länder unterbinden, nennt man das Geoblocking. Inhalte des vermeintlich grenzenlosen Internet werden gefiltert und nur für Computer angezeigt, die in Ländern stehen, denen die Rechteinhaber ihre Inhalte auch zeigen wollen. Ermittelt wird die Herkunft der Rechner über die so genannte IP-Adresse, mit der jeder Computer im Netz eindeutig erkennbar ist – auch in Bezug auf den Ort, an dem er steht. Warum die EMI nicht möchte, dass Menschen, die über deutsche IP-Adressen surfen, das neue Video der Band OK Go anschauen, darüber lässt sich nur spekulieren. Denn für ein Interview hat man keine Zeit, man kann nur schriftlich mitteilen: „Grundsätzlich ist es ein Lizensierungs- und Bezahlungsmodell, das von Land zu Land unterschiedlich ist, weshalb nicht alles von überall und überall zu sehen ist.“
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Sänger Damian Kulash hat offenbar mehr Zeit als sein deutsches Label. Für die New York Times hat er vor kurzem aufgeschrieben, warum er will, dass Videos frei im Netz verfügbar sind. Er belegt dies mit dem Clip zu „Here It Goes Again“, der – nach Damians Angaben – „mehrere zehn Millionen mal angeschaut wurde. Er brachte jede Menge Menschen auf allen fünf Kontinenten auf unsere Konzerte. Und als wir drei Jahre, 700 Konzerte später und einen Grammy reicher wieder ins Studio kamen, konnten die Leute bei der EMI eine schwarze Zahl in der Abrechnungsspalte für OK Go notieren. Für uns war dieser Clip ein erfolgreiches, kreatives Projekt. Für die Plattenfirma war er erfolgreiche, komplett kostenlose Werbung.“ Auf diese Werbung will die EMI nun offenbar verzichten. Doch das Problem mit dem Geoblocking geht über den Konflikt zwischen den Künstlern und deren Label hinaus. Es funktioniert nämlich nicht richtig. Mit einfachen Handgriffen kann man die Blockade umgehen. Dienste wie ClipNabber, WideSurf oder seit kurzem auch die Metasuchmaschine ixquick bieten sogenannte Proxy-Dienste an, die die Herkunft des Surfenden verschleiern. Wer unter dem Deckmantel eines solchen Proxys surft, kann die gesperrten Inhalte sehen und anhören, weil Seiten wie zum Beispiel YouTube nicht erkennen, aus welchem Land die Anfrage kommt. In der Metaphorik der fallenden Dominosteine aus dem OK Go-Videos heißt das: Man kann die Kettenreaktion bremsen, die das kleine rote Auto gestartet hat, stoppen kann man sie offenbar nicht.