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Das Marathon-Mädchen: Wie Friedrike die 42,195 Kilometer lief

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„Der Unterschied zwischen einem Jogger und einem Marathonläufer beträgt exakt 42,195 Kilometer“, lautet eine Definition, die in meinen Ohren vor kurzem plötzlich herausfordernd klang. Es war Ende Juli, die anderen stiegen in Flugzeuge nach Helsinki und andere Abenteuercities, um Sprachen zu lernen oder zu erproben, ob sie einen ganzen Sommer der finnischen Melancholie trotzen würden. Ich – kein Geld, viel zu tun für die Uni – wollte auch mal wieder ein mir völlig unbekanntes Ziel haben und ganz was Neues erleben. Deswegen laufe ich jetzt Kilometer 32 des München Marathons und ja, diese Schmerzen sind mir tatsächlich neu. Die Fußsohlen, das linke Knie, die Arme schmerzen, und ach, im rechten Fuß schien schon auf dem ersten halben Kilometer das Gerüst zu rosten. Den anderen Läufern um mich herum scheint es auch nicht viel besser zu gehen: Neben mir schiebt ein Paar starre Blicke auf dem Asphalt vor sich her, vorne wackeln drei dicke Männlein in orangefarbenen T-Shirts vom „Autobahn-Brückenlauf Suhl“ im Thüringer Wald und ziehen die Schultern hoch, als müssten sie auf glühenden Kohlen laufen. Aber wir sind ja auch nicht gekommen, um es uns gut gehen zu lassen. Sondern um durch die Hölle zu rennen und nicht vor dem Ausgang zu stoppen. Wehwehchen müssen ignoriert werden, das weiß jeder der 10 436 Läufer, vom Väterchen Alt bis zu jener, die heute zur deutschen Meisterin auflaufen wird. Ich habe keine Ahnung, wie schlimm die Quälerei werden wird, denn ich bin noch nie weiter als 30 Kilometer gelaufen, und halte mich deshalb am Gedanken aufrecht: Immerhin, ich laufe noch, das da gerade war das Schild von Kilometer 34 und es geht gut.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

So sehen Finisher aus: Friederike am Ende Dass es gut geht, ist der Lohn des Trainings. Es ist das A und O des Marathons, der in Wirklichkeit nicht 42 Kilometer lang ist und irgendwas zwischen zwei und sechs Stunden dauert (der Weltrekord liegt seit 2003 bei 2:04:55 – über das andere Ende der Zeitskala ist aber nur wenig bekannt: Die Zielzeitmesser gehen irgendwann nach Hause) – sondern Hunderte von Kilometern umfasst und in etwa drei Monate Training dauert. Das ist das Minimum, um die Strecke durchzustehen, sagen die zahlreich im Internet und in den Sport-Ecken der Buchhandlungen versammelten Laufgurus. Und durchaus, durchaus: Ich habe trainiert! Anfangs war ich besessen. Warum noch zum Markt, aufs Klo oder ausgehen, wenn ich doch genauso gut hinrennen, herumrennen, nie wieder heimrennen konnte? Sobald ich den Gedanken fertig gedacht hatte, lag ich röchelnd auf einer Bank am Kleinhesseloher See und hatte kapiert, dass viel nicht immer viel hilft. Wenn ich keine Überlastungserscheinungen bekommen und außerdem gesellschaftstauglich bleiben wollte, musste ich das richtige Maß finden. Drei Läufe wöchentlich waren dann trotz aller Zerstreuungen fast immer drin, denn wo genug Spaß an der Sache ist, ist bekanntlich auch ein Weg durch den Englischen Garten: Beim Joggen, auch das macht es zu solch einem empfehlenswerten Sport, kann man schnell Erfolge begießen, weil man nur ein klein wenig zäh bleiben muss, um sich anfangs wöchentlich merklich zu verbessern. Man wird schneller, kann längere Strecken laufen, hält seine Arme nicht mehr wie beim Ententanz, und Anfang August war ich schon so weit, dass ich nur „Papperlapapp!“ rief bei meinem Entschluss, am kommenden Sonntag den ersten „langen Lauf“ abzutraben. Der „lange Lauf“ ist das Herzstück des Marathontrainings: Dabei soll man bis zu 30 Kilometer beziehungsweise zwei, drei Stunden laufen, um die Muskelausdauer auf lange Distanz zu trainieren. Denn darum geht es im Marathontraining – wie in den meisten Sportarten auch –, selbst für moderate Aspiranten wie mich: ums Tüfteln, darum, an seinem Körper herumzufrickeln und ihn zu Bestleistungen zu tunen. Man sucht nach hügeligen oder flachen Trainingsstrecken und probiert verschiedene isotonische Drinks auf Sodbrennengefahr, immer mit dem Ziel, das Ergebnis und letztlich also sein Schicksal in den Griff zu bekommen: Man selbst möchte es sein, der die Fäden seines Lebens in der Hand hält. Typischer Marathon-Talk dementsprechend: Läufer A: „Puls?“ Läufer B: „Ist in Ordnung. (Nach sekundenlangem Blick auf seine Armbanduhr:) Legen wir ein bisschen zu, wir sind bei 5:50. (Minuten pro Kilometer)“ Läufer A: „Ist der Pacemaker für 3:45 vor oder hinter uns?" Läufer B: „Vor uns.“ Läufer C: „Scheiße.“


Das Marathontraining wird dadurch spätestens ab dem ersten langen Lauf logistisch anspruchsvoll: Welche Strecke in München ist eigentlich 20 Kilometer weit? Ist es nicht am praktischsten, wenn ich aus dem Fluss trinke? Brauche ich auch so einen Schnauzbart, wie ihn viele dieser ausgemergelten Hobby-Langstreckenläufer tragen, die ihren Urlaub nutzen, um durch die Sahara zu joggen? Über die besten Tricks unterhält man sich dann mit anderen Läufern, heutzutage also mit Internet-Usern, oder, wenn man wie ich Glück hat und einen Freund und Auskenner in der Leichathletik zu seinem Trainer ernennen kann, mit ihm.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Achseln buttern Auf der Internet-Seite www.bayernviewer.de guckten wir uns auf amtlichen Luftbildern, auf denen man Strecken markieren und berechnen kann, hübsche Routen über Stock und Stein sowie den Nymphenburger Schlosspark aus. Dann musste ich mir die Füße einpflastern (zum Schutz vor Blasen) und die Achseln mit Vaseline buttern (zum Schutz vor Wundreibungen) und lernen, während des Laufens zu essen, was mein Trainer auf dem Fahrrad nebenher fuhr. Als Jogger ahnt man ja nicht, was für einen Hunger man auf 20 Kilometern bekommen kann! Deshalb gibt es beim Marathon auch alle fünf Kilometer Verpflegungsstände, die die Läufer mit Wasser, Bananen, isotonischen Getränken und Energieriegeln füttern. Aus meiner Hosentasche zücke ich jetzt bei Kilometer 35 zusätzlich den letzten meiner drei Beutel Kraft-Pampe. Es handelt sich dabei um einen kleinen, legal erwerblichen Alu-Beutel, aus dem man ein hochkalorisches Energie-Gel herauszuzelt: abartig süß mit der Konsistenz von, ich schätze, Nacktschnecken. Es ist widerlich, hinterher möchte man sich sofort die Zähne putzen, solange sie noch da sind – und rennt und rennt und rennt. Auf Zucker, frisch geölt. Das Prinzip, nach dem mein Trainer und ich übten: Immer nach der Tagesform gehen. Deswegen laufe ich auch heute nicht nach der Uhr, sondern nach Gefühl. Sich nicht allzu sehr an den anderen zu orientieren, ist eine der Lektionen für’s Leben, die man bestens lernen kann beim Marathon: Auf den ersten Kilometern, die ich gewohnheitsmäßig langsam angehe und diesmal damit verbrachte, die vielen Läufer, die schneller starteten, vorbeizulassen, musste ich mich durchaus zusammenreißen, um mich nicht einfach ihrem Tempo anzupassen – weil schnell losrennen doch bestimmt richtig ist, wenn alle es so machen, oder? Jetzt, auf Kilometer 35, weiß ich: Jeder läuft seinen eigenen Lauf, und abgesehen von den Schmerzen in allen Gliedern zischt meiner mehr als zuvor. Ohne Lüge: Ich überhole sie jetzt alle (bis auf all’ jene, die längst im Ziel sind wie der neue deutsche Meister Matthias Körner, der bereits nach 2:21:54 Stunden ins Ziel eingelaufen ist, woran ich glücklicherweise nicht denke). Ich ziehe richtig durch. Am Anfang muss man sich bremsen, um sich nicht zu früh zu verausgaben und dann auf den letzten Kilometern einzubrechen. Doch wann, wenn nicht jetzt, die letzten Kräfte raushauen?


Ablenkung von den Schmerzen gibt es auch endlich wieder. Diese vielen Menschen, die zur Marathon-Strecke kommen, um die Läufer am Verzweifeln und Aufgeben zu hindern: Bands, Trommler-Gruppen, Kinder, die Plakate hochhalten, auf denen „Mama, wir sind stolz auf Dich!“ steht oder jener Spruch, mit dem Jan Ullrich 1997 zum Tour-de-France-Sieg motiviert wurde – „Quäl Dich, Du Sau!“ Trappeln der Turnschuhe Hier im Englischen Garten ist es nicht mehr wie auf den Kilometern 16 bis 26, die in den Industrie- und Bürogebieten von Berg am Laim, Steinhausen und Oberföhring den Entertainment-Wert eines Fernseh-Testbilds hatten. Dort war, nachdem sich das Feld der Läufer bereits entzerrt hatte, nicht mal mehr das gedrängte Trappeln Hunderter von Turnschuhsohlen zu hören wie auf den ersten Kilometern, was wenigstens gespenstisch war. Bis zur Marke von 15 Kilometern waren dann berühmte Münchner Ansichten von Schwabing, der Leopoldstraße und dem Königsplatz geboten, später der Marienplatz (wo man wie Vieh durch die Menge getrieben wurde) und Haidhausen (wo die jungen Taugenichtse in ihren Fenstern saßen, Zigaretten frühstückten und allen Ernstes Sportfreunde-Stiller-Schlager dröhnten). Im Englischen Garten rufen alte Damen jeder Läuferin „Suuuuper! Weiter so!“ hinterher, und Kinder singen auf die Melodie von „Ihr könnt nach Hause gehen“ die Worte „Wir woll’n Euch lachen sehn, wir wollen Euch schneller sehen. . .“ Es ist rührend. Und es hilft tatsächlich. Selbst als jemand „So sehen Champions aus“ ruft und es ganz offensichtlich Ironie ist, drücke ich die Fersen doch ein wenig fester in den Boden. Die Blicke der Anderen sind kleine Korrekturspiegel: Läuft doch alles, oder? Bei Kilometer 40, kurz vor dem Olympiapark, habe ich die ersten Seitenstechen, und zwar die schlimmsten meines Lebens. So als würde mein Zahnarzt meine Eingeweide ziehen. Ich verlangsame. Kilometer 41. Nur noch 1.195 Kilometer. Es geht jetzt eigentlich nicht mehr. Das finden auch die vielen Läufer, die zu Fuß ins Ziel wandern. Aber ich spurte. Trotz. Allem. Die 40 zurückliegenden Kilometer sind nichts gegen die letzten beiden, die sich ziehen wie eine Rolltreppe in die falsche Richtung gelaufen. Ins phantastische Olympiastadion einlaufen, doch die Ehrenrunde ist kein erhebendes Gefühl, sondern soll endlich, endlich enden – und dann ist es vorbei, wirklich vorbei: Hinter dem Ziel kann ich nicht mal mehr normal gehen. Muskelkater überall. Ich stapfe wie einer dieser O-beinigen Muskelberge. Humpele. Die Stadionwiese ist übersäht mit herumliegenden Läufern, die gegen Auskühlung in Plastikdecken eingewickelt sind und sich gegenseitig mit Joghurt füttern. Sie brauchen jetzt Eiweiß, um die zerstörten Muskelstrukturen zu reparieren. Es ist wie ein riesiges Sekten-Krankenlager im Rausch zwischen Glücksstöhnen und Entspannungsweinen. Ich ziehe mich am Geländer die Treppen hoch. Jetzt baden, dehnen, massieren lassen. Was für eine üble Tortur. Was für ein Glück. Haare? Blond wie eh und je. Gemüt? Nicht melancholischer als zuvor. Tango? Tanz’ ich immer noch nicht. Trotzdem: Ich bin „Finisher“ geworden am Sonntag beim Marathon. Nach 04:04:08 Stunden ist auch mein Sommer am Ziel. Fotos: Vitesse München, Reuters

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