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„Das Land, das mich geprägt hat, ist nicht mehr da“
„Das Paradies“ heißt das Buch der Autorin Andrea Hanna Hünniger. Darin beschreibt sie ihre Jugend im Weimar der Post-DDR. Sie erzählt von Plattenbauten, Disneylandträumen und Neonazimode. Im Interview mit jetzt.de erklärt die 27-Jährige, warum sie keine Ahnung von der DDR hat, trotzdem ostdeutsch ist und wie sich westdeutsche von ostdeutschen Jugendlichen unterscheiden.
jetzt.de: Hanna, als die Mauer fiel, warst Du fünf Jahre alt. Woran erinnerst du dich?
Hanna: Ich habe fast keine Erinnerung an die Zeit vor 1989. Höchstens, wie ich mal mit meinen Eltern unterwegs war – aber ob das eine Demo oder der Zwiebelmarkt war, kann ich nicht sagen. Wirkliche Erinnerung setzt 1992 ein, als wir die Eröffnung von Disneyland im Fernsehen angeschaut haben.
jetzt.de: Was erzählen deine Eltern aus der DDR?
Hanna: Generell haben meine Eltern wenig erzählt. Die sagen nicht ,Weißt Du noch, damals . . .‘ Mit der Wende haben sie aufgehört, über Vergangenheit zu sprechen. Zum Beispiel habe ich meinen Vater 1989 in seiner Uniform gesehen. Das war eine Uniform für eine Feierlichkeit. Als ich meine Mutter danach fragte, sagte sie: ,Das hast Du falsch gesehen. Es gab kein Militär in der DDR.‘ Zwischendurch habe ich mal gefragt: ,Wie war das mit der Stasi?‘ Mein Vater meinte: ,Ich kann’s nicht mehr hören. Jetzt räum Dein Zimmer auf!‘ Als ich begann, das Buch zu schreiben, hat mein Vater erstmals geredet. Aber nicht einmal da durfte ich viel fragen. Man kriegt das also nie richtig zu fassen.
jetzt.de: Wie hat sich das auf deine Beziehung zu deinen Eltern ausgewirkt?
Hanna: Irgendwann spürt man Verachtung, wenn sie nicht reden, alles unkonkret bleibt. Da wollte ich auch nichts mehr wissen.
jetzt.de: Das heißt, für dich waren die Eltern niemand, zu dem du mit Problemen gehen würdest?
Hanna: Das ist außerhalb der Vorstellung. Das ist der Unterschied zu Jugendlichen, die in Westdeutschland aufgewachsen sind. Das, was Nina Pauer gerade in ihrem sehr interessanten Buch beschreibt, Eltern als Freunde, stimmt nicht für ganz Deutschland. Unsere Eltern sind definitiv nicht unsere Freunde.
jetzt.de: In deinem Buch kommen viele Klischees vor: die Bananen, die Karl May Filme, der beschworene Pazifismus. Sind das Erinnerungen oder Recherche-Ergebnisse?
Hanna: Das sind Sachen, die ich durch die Recherche erfahren habe, beispielsweise die Idee vom Staat, in dem alle Antifaschisten sind. Natürlich wird gesagt, ich habe Klischees beschrieben, aber das gab es nun einmal so. Ich kann ja nicht der Originalität wegen plötzlich Dinos auftreten lassen, weil es ungewohnt ist. Und ich habe immer wieder Freunde gefragt: Stimmt das?
jetzt.de: Wie haben die reagiert?
Hanna: Die meisten haben gesagt: Das gibt es doch nicht mehr, so eine Identität als Ostdeutscher. Aber je öfter ich drüber gesprochen habe, desto bewusster ist mir geworden: Doch, es gibt diese Identität. Viele Leute, auch der nachgeborenen Generation, haben gesagt, dass es ihnen genauso geht. Vor dem Rätsel, vor dem ich stehe, stehen auch andere: Aus welchem Land komme ich? Und ist das jetzt hier das Happy End?
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Hanna
jetzt.de: Diese Fragen stellen sich auch westdeutsche Jugendliche.
Hanna: Ja, aber bei uns ist das, worauf wir zurückgreifen, ein schwarzer Fleck. Unsere Eltern reden nicht über die Diktatur, sonst müssten sie sich ihre Blödheit eingestehen. Stattdessen herrscht eine Atmosphäre der Scham. Als hätte man Migrationshintergrund: Das Land, das mich geprägt hat, ist nicht mehr da, aber die Prägung wirkt.
jetzt.de: Das heißt, du stellst die gleichen Grundsatzfragen wie westdeutsche Jugendliche, gehst sie aber nur anders an?
Hanna: Die Weltsicht ist eine andere: Morgen könnte alles zusammenbrechen – das ist unsere Erfahrung. Es gibt größere Unsicherheit. Einerseits gibt es den Sozialismus, der ist zusammengebrochen, andererseits den Kapitalismus, zu dessen Feinden wir erzogen wurden. Religion haben wir keine, dazu sind wir zu vernünftig. In Wahrheit glauben wir schließlich an nichts und hängen dazwischen. Nichts gegen Kapitalismus. Er macht die Menschen nur dumm und hässlich. Meine Meinung.
jetzt.de: Du findest es also gut, nicht diese zu vielen Möglichkeiten zu haben, von denen sich westliche Jugendliche überfordert fühlen?
Hanna: Schon. Immerhin haben wir keine Ereignislosigkeit. Der biographische Bruch fließt in alles ein. Aber es ist eben immer eher Kriegsgebiet als Wohlfühlwelt. Ich habe die Neunziger als Schlachtenbummler verbracht.
jetzt.de: Und als Neonazis, zumindest laut Klischee.
Hanna: Eine Zeit lang haben tatsächlich alle Jungs Bomberjacke getragen. Das war aber ein Anpassen, um keine Probleme zu haben. Diese Jungs muss man unterscheiden von den Gewalttätigen, die ich im Buch beschreibe. Die Mode hat sich später aufgelöst, die Radikalen sind geblieben – als Überbleibsel einer Zeit, in der sich kein Schwein dafür interessiert hat, was die Jugendlichen machen. Genauso wenig wie die Eltern mit Disneyland etwas anfangen konnten, haben sie verstanden, wie scheiße es ist, wenn plötzlich das Horst-Wessel-Lied läuft.
jetzt.de: Es gab also auch in den Neunziger Jahren verschiedene Jugendkulturen in Ost und West?
Hanna: Naja, im Osten gab es damals zwei Varianten: Neonazi oder Kiffer. Am Anfang, 1990, hat meine Mutter sich geweigert, von Ossi und Wessi zu sprechen. Erst so 1995 fing die Verlusterfahrung an. Die massiven Unterschiede zu den Westlern sind mir später bewusst geworden, als ich nach Göttingen ging zum Studium.
jetzt.de: Welche Unterschiede waren das?
Hanna: Alle kamen mir besser erzogen vor. Die waren selbstbewusst, politisch besser gebildet. Ich kam mir doof vor. Ich habe mich überangepasst, zum Beispiel einen Benetton-Pulli gekauft, um zweifelsfrei nicht aus dem Osten zu kommen – im Gegensatz zu alternativen westlichen Studenten mit ihren zerrissenen Jeans sah ich so aus, wie man sich BWLer vorstellt. Oder eine sogenannte „Tussi“.
jetzt.de: Du schreibst darüber, dass die DDR in Form von Gebäuden und ähnlichem nicht mehr existiert. Wenn du nach Weimar kommst – was ist für dich da noch ostdeutsch?
Hanna: Das verkrampfte Verhältnis der Menschen zu Regeln, die mit diktatorischer Genauigkeit verfolgt werden. Beispielsweise ein Hotelbesitzer in Weimar, der mir persönlich beleidigt war, weil ich eine Zigarette geraucht habe im Zimmer. Das ist ein krasses Phänomen: der Umgang mit Eigentum. Die erlernte Feindestheorie war: Kapitalismus ist eine Ellenbogengesellschaft. Das haben sich die Leute angeeignet. Als könnte der Hotelbesitzer Kosten für ein Raumspray haben, die ich verursache. Als hätte ich ihm die Zigarette ins Herz gestoßen.
jetzt.de: Gibt es auch etwas, das du magst an Ostdeutschland?
Hanna: Magst? Ich liebe Ostdeutschland. Die ausgestorbenen Landschaften in Mecklenburg, in den Dörfern die beklemmende Atmosphäre, die fast Angst macht. Die erkennst du nicht an Straßen oder Häusern. Etwas liegt in den Leuten, das ist morbide. Das ist eine Seite, die ich auch in mir habe. Ich betrachte die Welt ironisch, bedingt durch familiäre Katastrophen und die Zeiten im wilden Osten.
jetzt.de: Du wurdest in Rezensionen als ,Erbin der DDR‘ bezeichnet. Wie findest du das?
Hanna: Wir erben schon was, nicht nur ich, alle anderen auch. Aber nur einen Konflikt, denn vom Land ist nichts mehr da. Also sind wir vielleicht nicht Erben, sondern eher Hinkelsteinträger.
jetzt.de: Was stört dich an der DDR-Darstellung in der Öffentlichkeit?
Hanna: Da wird eine Fantasie-DDR wiederbelebt. Darin ist die DDR Gruselshow oder unbeholfenes Traumland. Ich wurde gefragt, ob wir genug zu Essen hatten oder Weihnachten gefeiert haben. Dadurch fühle ich mich entwürdigt. Dabei gab es in dem Land Künstler, Christa Wolf oder Heiner Müller zum Beispiel, und drei Weltklasse-Orchester. Und nach der Wende dachten alle, wir müssten plötzlich glücklich sein. Dass da ein Prozess vor sich geht, eine gesellschaftliche Veränderung, war den wenigsten klar.
Andrea Hanna Hünniger, Das Paradies. Meine Jugend nach der Mauer, TropenVerlag, 17,95 Euro.
Text: lea-hampel - Foto: Tobias Kruse für Klett-Cotta