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Das Jahr der Demonstranten

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Immer zum Ende eines Jahres druckt das amerikanische Magazin Time ein Bild der Person aufs Cover, die nach Ansicht der Redaktion die vorangegangenen zwölf Monate besonders beeinflusst hat. Die Person des Jahres 2011 ist für die Journalisten „The Protester“, der Demonstrant. Im Nahen Osten und in Nordafrika, in New York und in Moskau, überall auf der Welt gingen die Menschen auf die Straße, um gegen Diktatoren, Regierungen oder die Macht der Wirtschaft zu kämpfen. Die Umwälzungen, die der arabische Frühling mit sich brachte, waren besonders groß.

Die amerikanische Fotojournalistin Holly Pickett hat sie live verfolgt. Holly arbeitete bis zum Frühjahr 2008 für eine Tageszeitung im US-Bundesstaat Washington. Den Sommer verbrachte sie mit einem Stipendium in der Redaktion von jetzt.de, ehe sie Ende 2008 nach Kairo ging, um von dort unter anderen für die New York Times und die Bildagentur Redux zu fotografieren. Die Amerikanerin war die erste Journalistin, die vom Tod des libyschen Machthabers Muammar Gaddafi am 20. Oktober 2011 erfuhr. An jenem Tag wurde Gaddafis Autoconvoy während eines NATO-Luftschlags nahe Sirte getroffen.

„Viele Journalisten hatten Sirte schon verlassen“, erzählt Holly. „Ich war noch geblieben, um die Arbeit der Ärzte und Krankenwagenfahrer an der Front zu dokumentieren. Ich saß gerade in einem Krankenwagen nach Sirte und wir fuhrne zufällig in Richtung des Ortes, wo die Rebellen Gaddafi wenige Minuten vorher gefangen genommen hatten. Plötzlich raste ein anderer Krankenwagen an uns vorbei, darin Rebellen. Sie schrien: ,Wir haben Shafshufa! Wir haben Shafshufa!‘ Es bedeutet soviel wie: ,Wir haben den Lockenkopf!‘ Mir war klar, dass damit nur Gaddafi gemeint sein konnte. Wir fuhren neben den Krankenwagen. Die Rebellen öffneten die Tür. Ich sah den Bauch, aber nicht den Kopf des Leichnams. Dann öffneten sie die Hintertür und wir sahen den Lockenkopf.“

Holly hat entscheidende Tage der Revolutionen im Norden Afrikas mit dem Fotoapparat begleitet. Für jetzt.de erzählt sie ihre Version des arabischen Frühlings – anhand von sechs Bildern.

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Präsident Ben Ali tritt zurück: Der 14. Januar 2011 in Tunis, Tunesien. Ein Mann flüchtet vor einem Angriff mit Tränengas, als die Polizei eine Demonstration von mehreren tausend Menschen auflösen will. Die Menschen hatten sich vor dem Innenministerium versammelt und verlangten den Rücktritt von Präsident Zine el-Abidine Ben Ali. Noch am selben Tag, fast in derselben Stunde bricht das Regime zusammen und Ben Ali flieht nach Saudi-Arabien. Mehr als zwei Jahrzehnte autoritärer Herrschaft gehen zu Ende.

An jenem Tag begann das, was wir heute arabischen Frühling nennen. Der Triumph der Demonstranten in Tunesien, die den Diktator friedlich stürzten, ebnete den Weg für andere: Die Ägypter mussten erst sehen, was möglich ist. Als später der ägyptische Staatspräsident Hosni Mubarak zurücktrat, gab es kein Halten mehr. Menschen in Bahrain, Libyen, Yemen, Syrien, Jordanien, Oman, Algerien, Marokko und im Irak gingen auf die Straße. Sie demonstrierten für Reformen und für neue Regierungen.

Als ich am 13. Januar 2011 in Tunis ankam, hatte ich noch nie einen Aufstand mitbekommen. Ich habe auch noch nie erlebt, wie es ist, wenn ein Regime sozusagen vor meinen Augen verschwindet. Seit 2008 habe ich immer wieder Proteste erlebt, die aber von der Polizei schon im Keim erstickt wurden. Warum sollte es ausgerechnet den Menschen in Tunesien anders gehen? Nur wenige Sekunden nach dieser Aufnahme landete eine Büchse mit Tränengas vor meinen Füßen. Ich hustete und würgte. Ein paar tunesische Männer zogen mich zur Seite und halfen mir, wieder zu mir zu finden. Danach fotografierte ich weiter, wie die Polizei versuchte, die Demonstranten zu vertreiben.

Tag der Wut: Der 28. Januar 2011 in Kairo, Ägypten.

Demonstranten reißen ein riesiges Poster des ägyptischen Präsidenten Hosni Mubarak von einer Hauswand. Kurz vorher ist die Polizei während einer heftigen Auseinandersetzung mit Demonstranten zurückgewichen.

Der Aufstand hatte schon ein paar Tage vorher begonnen, am 25. Januar, dem Nationalfeiertag zu Ehren der Polizei. Zwei Tage dauerten die Proteste gegen die Korruption im Land, gegen die Notstandsgesetze und gegen die Brutalität der Polizei. Am dritten Tag herrschte erst noch eine gespannte Ruhe. Aber alle sprachen über einen richtig großen Protestzug, einen Marsch zum Tahrir-Platz in der Innenstadt von Kairo. Am 28. Januar sollte es soweit sein. Die Opposition sprach bereits vom „Tag der Wut“.

Am 28. Januar funktionierte erstmal nichts – weder Internet noch Telefon. Das Regime hatte vorgesorgt und den Menschen das wichtigste Handwerkszeug zur Organisation einer Demonstration gesperrt. Aber es war schon zu spät. Zehntausende kamen nach dem Freitagsgebet zum Tahrir-Platz und forderten Mubarak zum Rücktritt auf. Den ganzen Tag lang gab es Auseinandersetzungen mit der Polizei, ehe die Demonstranten am Abend den Platz in ihren Besitz nahmen. Sie wichen erst wieder, als Mubarak am 11. Februar zurücktrat.

Bis zu jenem Tag hatte ich ziemlich genau zwei Jahre in Kairo gelebt. Auch wenn schon bei meiner Ankunft Ende 2008 eine gewisse Unruhe in der Bevölkerung zu spüren war – ich hätte mir nie vorstellen können, dass sich die Orte, die ich an meiner neuen Stadt, in meiner neuen Heimat so schätzen lernte irgendwann in Kriegsschauplätze verwandeln würden.

Den ganzen Freitag lang habe ich fotografiert. Die Nacht habe ich in einer Jugendherberge nahe dem Tahrir übernachtet. Ich hatte Angst, es nicht mehr heil zu meinem Appartment zu schaffen.

Ein Rebell wird beerdigt: Der 27. März 2011 im Osten Libyens.

Das Foto zeigt betende Männer, die gerade am Rande der Straße zwischen Ras Lanuf und Brega einen toten Rebellen beerdigt haben. Angeblich hatten Pro-Gaddafi-Kämpfer seine und zwei weitere Leichen ausgegraben und offen neben der Straße liegen lassen. Die Männer entdeckten sie und bestatteten sie nach muslimischer Tradition. Acht Tage vorher, am 19. März, war ich von Ägypten nach Libyen eingereist. Es war der erste Tag der NATO-Flugverbotszone, die wahrscheinlich vielen Menschen, vor allem in der Rebellenhochburg Bengasi das Leben gerettet hat. Nach allem was man weiß waren die Gaddafi-Truppen kurz davor, Angriffe auf Bengasi zu fliegen. Und doch: Der Krieg sollte noch sieben weitere Monate dauern. Muammar Gaddafi, seit 42 Jahren an der Macht, wollte nicht von ihr lassen.

Ein Zeltdach: Der 8. Juli 2011 in Kairo, Ägypten. Die Aufnahme entstand auf dem Tahrir-Platz. Die Demonstranten hatten zum Schutz vor der Hitze ein Zeltdach gespannt, das von Sicherheitsnadeln und Seilen gehalten wurde. Sie waren wieder auf die Straße gegangen. Nach Mubaraks Rücktritt hatte der Oberste Militärrat die Macht übernommen und die Dinge wurden nicht besser: Der Wahltermin für ein neues Parlament war um mehrere Monate verschoben worden. Mubaraks Notstandsgesetze waren immer noch in Kraft und erlaubten die Festnahme friedlicher Bürger. Immer noch übte die Polizei Gewalt gegen Demonstranten aus. Die Menschen verlangten unter anderem ein Ende der Militärprozesse gegen die Demonstranten, die zu Beginn der Aufstände ins Gefängnis gekommen waren. Außerdem forderten sie, Mubarak endlich für den Tod vieler unschuldiger Demonstranten zu bestrafen.

Freiheit in Libyen: Der 23. Oktober 2011 in Misrata, Libyen.

Das Bild zeigt jubelnde Frauen in Misrata: Gerade eben hat der Nationale Übergangsrat offiziell die Befreiung vom Regime Muammar Gaddafis verkündet. Drei Tage vorher war Gaddafi von den Rebellen gefasst worden. Der Übergangsrat, hieß es, hatte mit dieser Deklaration warten wollen, bis die Kämpfe um Sirte zu Ende gegangen sind.

Neue Wut: Der 22. November in Kairo, Ägypten.

Demonstranten marschieren nahe dem Tahrir-Platz auf Polizisten zu, die gegen den Protestzug in Stellung gegangen sind. Die Auseinandersetzungen begannen schon einige Tage vorher, als Sicherheitskräfte 100 unbewaffnete Demonstranten vom Tahrir-Platz vertrieben hatten. Vor lauter Wut machten sich mehrere Tausend Ägypter auf den Weg zum Tahrir, warfen Steine und Molotow-Cocktails und verlangten ein Ende der Militärherrschaft. Die Polizei setzte Tränengas ein und schoß in die Menge. 40 Menschen kamen ums Leben. Nur eine Woche vor den ersten Parlamentswahlen waren Stadt und Land wieder im Ausnahmezustand. Die Revolution war erfolgreich. Aber sie scheint noch nicht zu Ende zu sein.

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