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„Das ist eine kraftvolle Entwicklung“

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Der Kulturanthropologe Michael Wesch arbeitet als Assistant Professor an der Kansas State University. Auf seiner Website beschreibt sich der 33-Jährige als Medienökologe, der die Auswirkungen neuer Medien auf die menschliche Interaktion untersucht. Einer breiten Öffentlichkeit wurde Wesch bekannt, als er im Jahr 2007 in einem nicht mal fünfminütigen Film namens „The Machine is Us/ing Us Digital Ethnography Working Group" große Aufmerksamkeit. Darin trug Wesch Ergebnisse seiner Forschung über die Videoplattform YouTube zusammen.

jetzt.de: Mister Wesch, sind Sie der YouTube-Professor?

Michael Wesch: Das klingt lustig, aber es stimmt: Ich habe ziemlich viel über YouTube geforscht.

jetzt.de: Wie kam’s dazu?

Wesch: Schuld sind unter anderem die Studierenden: YouTube ist fester Bestandteil ihrer Kultur und so kam ich auf das Thema. Die Frage, wie neue Technologien unsere Vorstellung von Kultur verändern, steht schon immer im Fokus meiner Arbeit.

jetzt.de: Welche Veränderungen hat YouTube ausgelöst?

Wesch: YouTube steht für die Art und Weise, wie sich eine Gemeinschaft verändert, wenn sie sich um Kameras und Bildschirme gruppiert. Die YouTube-Community ist auf Basis dieser Technologie erblüht und man kann daran ablesen, wie Menschen über sich denken oder wie sie ihre Beziehungen gestalten.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

jetzt.de: Können Sie das konkreter sagen?

Wesch: Die Menschen empfinden die Beziehungen, die sie auf YouTube aufbauen, als sehr intensiv und emotional. Gleichzeitig sind diese so genannten Freundschaften sehr unsicher und wacklig und darüber sind sich viele auch sehr bewusst. So entsteht ein neuer Typus von Beziehungen. Die Menschen auf YouTube fühlen sich mit der ganzen Welt verbunden, empfinden aber dennoch ein hohes Maß an Autonomie, ja manchmal auch an Einsamkeit.

jetzt.de: Woran liegt das?

Wesch: Naja, die meisten Nutzer sitzen ja alleine vor ihrem Rechner, in ihrem eigenen Zimmer. Da kann so etwas wie Einsamkeit entstehen, die in besonderen Momenten mit anderen geteilt werden kann. Wenn zum Beispiel Menschen über ihre Webcams sprechen – vielleicht sogar über ihre Einsamkeit – dann ensteht wieder eine Verbindung.

jetzt.de: Es geht also um eine globale Verbindung in einem privaten Rahmen?

Wesch: Kann man so sagen. Es geht darum, Gefühle zu teilen. Nehmen Sie das Beispiel des „Numa Numa“-Songs. Der heißt nach dem Refrain des Lieds „Dragostea din tei“. Dieser Song ging um die Welt, weil ein Junge in New Jersey ihn nachgesungen und online gestellt hat. Das war der Startpunkt für zahlreiche Menschen, diesen Song auch zu singen und sich gemeinsam mit Gary Brolsma aus New Jersey darüber zu freuen. Aber „Numa Numa“ ist nur ein Beispiel für die Kultur der Beteiligung, die auf YouTube gepflegt wird. Menschen teilen sich mit, teilen ihre Gefühle und werden dabei selber aktiv. Das ist eine kraftvolle Entwicklung.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert
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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert
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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert
Gary (oben) und seine Nachahmer. 

jetzt.de: Aber hängt die tatsächlich an YouTube? Das Phänomen „Webcam“ gibt es doch schon länger.

Wesch: Stimmt. Früher ging es aber meist um Live-Webcams: Einer spricht in die Kamera, der andere sieht zu oder antwortet im Chatroom. Bei YouTube haben viel mehr Menschen die Möglichkeit, sich selber ins Bild zu setzen. Hier beginnt die kulturelle Veränderung: Junge Menschen sehen nicht mehr passiv fern; es geht schon beim Sehen um die Frage, wie ich die TV-Inhalte kommentieren, remixen oder umgestalten kann. Das ist eine neue Einstellung gegenüber den Medien – die natürlich nicht auf jeden zutrifft. Es gibt noch eine Menge Leute, die kritiklos Dinge konsumieren oder sich nicht mal für die Nachrichten interessieren. Aber die Gruppe derjenigen, die sich die medialen Inhalte aneignen und weiterverwenden wollen, wächst beständig.

 

jetzt.de: Bezieht sich das lediglich auf junge Menschen?

Wesch: Hauptsächlich. Aber diese Veränderung betrifft unterschiedliche Generationen. Die Art und Weise, wie wir mit Medien umgehen, ist im Umbruch.

 

jetzt.de: Können Sie den YouTube-Nutzer beschreiben? 

Wesch: Es gibt zahlreiche Genres auf YouTube. Die häufigsten Clips sind aber Home-Videos: Bilder von Mama oder Papa, die ihre Kinder filmen und den Film den Großeltern zeigen wollen.

 

jetzt.de: Warum erforschen Sie solche Home-Videos wissenschaftlich?

Wesch: Ich glaube, wir können daran den Pulsschlag unserer Kultur ablesen. Dabei geht es nicht so sehr um die Inhalte, sondern darum, dass jeder Mensch diese Technologie nutzen kann. Ich vergleiche das mit dem Automobil und wie es die Gesellschaft verändert hat: Beim Auto wurden die Städte den Ansprüchen der mobilen Fortbewegung angepasst. Wir untersuchen, welche Veränderungen das Internet auslöst. Dabei schauen wir uns ein spezifisches Phänomen wie YouTube und all die Filme an, die dort hochgeladen werden. Man muss all diese Details zusammentragen, um einen Blick auf das große Ganze zu kriegen.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert
Michael Wesch 

jetzt.de: Es gibt Leute, die von Schrott sprechen, wenn sie die von Amateuren erstellten Inhalte beschreiben. Halten sie diese Inhalte für kulturell minderwertig?

Wesch: Ich glaube, sie haben eine andere Wertigkeit. Wir erleben eine Art Hebung der sogenannten U-Kultur, also dessen, was kulturell vermeintlich weniger Wert hat. Zumindest beobachte ich das derzeit in den USA. Zur Entwicklung in Europa kann ich mich nicht äußern . . .

 

jetzt.de: In den vergangenen Monaten wurde hier ausführlich über die Frage diskutiert, ob das Web uns dümmer macht.

Wesch: Stellen wir uns vor, man könnte uns das Internet wegnehmen, um unsere Intelligenz ohne Internet zu untersuchen – man käme vielleicht zu dem Ergebnis, dass wir uns in unserem Denken zu sehr auf das Netz verlassen. Dass wir also faul geworden sind. Aber das gleiche Argument gab es schon vor Jahrhunderten, als man annahm, das Buch würde uns dümmer machen, weil wir verlernen könnten, uns wichtige Dinge zu merken.

Ich habe in den 90er Jahren untersucht, wie sich die Kultur in Papua-Neuguinea durch die Einführung von Papierdruck verändert hat. Die Menschen dort hatten ganz erstaunliche Fähigkeiten, sich an Dinge zu erinnern. Insofern muss man klar sagen: Ja, das Internet verändert die Art, wie wir denken. Aber diese Veränderungen interessieren mich.

 

jetzt.de: Halten Sie sie für gefährlich?

Wesch: Der Journalist Kevin Kelly hat die Rückfrage gestellt: Erlauben wir es Google, uns klüger zu machen? Für mich als Wissenschafter besteht Wissen nicht nur aus all dem, was man im Kopf hat, sondern auch aus der Fähigkeit, Verbindungen herzustellen.

 

jetzt.de: Das Internet hilft uns, Verbindungen herzustellen. Diese Verbindungen sind Kern dessen, was Sie Remix-Kultur nennen – diese Kultur stößt immer an Grenzen des Urheberrechts . . . 

Wesch: Dabei glaube ich, dass es aus rein demokratischen Gründen sehr wichtig ist, dass die Menschen Material aufgreifen und remixen können. Es muss möglich sein, Teile eines Politikerstatements zu nehmen und sie umzugestalten und selber eine Meinung dazu zu formulieren. Das ist etwas anderes, als wenn man fremdes Material nimmt und dieses als sein eigenes ausgibt und damit sogar noch Geld verdient.

 

jetzt.de: Sie haben herausgefunden, dass 88 Prozent der Filme auf YouTube keine Kopie von urheberrechtlich geschütztem Material sind, sondern neu erstellt wurden.

Wesch: Vermutlich ist der Anteil der illegal kopierten Filme, die dort angeschaut werden, höher – aber wenn man den Anteil der selber produzierten Clips untersucht, stellt man fest, dass der überwiegende Teil Home-Videos sind.

 

jetzt.de: Sie haben in Ihrer Forschung viele Beispiel für kreatives Kopieren herausgestellt. In einem Beispiel imitieren zahllose YouTube-Nutzer den Clip zweier kleiner Brüder, in dem der Jüngere dem Älteren in den Finger beißt.

Wesch: Davon gibt es viele Beispiele. Man muss feststellen, dass derjenige, der kopiert wird, häufig profitiert, weil der Grad seiner Bekanntheit enorm steigt.

 

jetzt.de: Ist der „Remix“ der große Unterschied zur Kultur von vor, sagen wir, dreißig Jahren?

Wesch: Es ist heute für jeden möglich, sich in Form von Videos auszudrücken und Remixe in Form von Filmen zu erstellen. Deshalb wissen heute viel mehr Menschen von der Kraft der Remix-Kultur und wollen daran teilnehmen.

 

jetzt.de: Ist das eine Verbesserung?

Wesch: Ich finde das eine großartige Entwicklung: Mehr Menschen haben die Möglichkeit, ein Publikum zu erreichen. Das ist doch wunderbar!

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