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Das flüchtende Klassenzimmer
Der weißrussische Grenzbeamte nimmt seine Aufgabe sehr ernst. Breitbeinig steht er im Abteil und befiehlt: "Tasche auf!" Anastasija öffnet ihren Rucksack, ein Beamter nimmt Bücher und Hefte heraus. Er blättert lange in den Unterlagen, mustert jeden Einband. Er verlangt die Pässe und begutachtet die Visa. "Was wollt ihr in Litauen?", fragt er. "Wir studieren dort", sagt Anastasija. Der Grenzbeamte schaut böse und geht, ohne sich zu verabschieden. Die Mädchen packen ihre Sachen wieder zusammen, die litauischen Kollegen der weißrussischen Zöllner wollen nur die Ausweise sehen. Seit eineinhalb Jahren studieren Anastasija, Palina und Tanja an der Europäischen Humanistischen Universität (EHU). Die EHU ist wohl die einzige Hochschule der Welt, die im Exil ausbildet. Im Sommer 2004 ließ Weißrusslands autokratischer Präsident Alexander Lukaschenko mit der EHU die letzte unabhängige Universität seines Landes schließen. Im Herbst 2005 ging der Lehrbetrieb in der litauischen Hauptstadt Vilnius weiter, und deswegen sitzen die Mädchen nun im Zug, der die beiden Städte verbindet. Bei Tee und Keksen beginnt Anastasija im Abteil zu erzählen.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Sie ist 21 und studiert internationales Recht: "Ich wollte an die EHU, weil die Ausbildung dort am besten ist. Das weiß jeder in Weißrussland." Neben dem Auswahlverfahren mit Sprachtest, Motivationsessay und Einzelgespräch musste sie ein weiteres Hindernis überwinden: "Meine Eltern und Freunde waren sehr skeptisch, denn die EHU war noch nicht registriert - und keiner wusste, ob die Behörden in Minsk meine Familie nicht schikanieren würden." Gegen Europas letzten Diktator Im ersten Jahr gab es nicht genügend Räume, und so fand der Unterricht auch samstags und sonntags statt. "Dafür hatten wir am Montag frei", erinnert sich die 21jährige Palina. Andauernd habe sich der Stundenplan geändert, doch das Chaos hat die Studenten zusammenge-schweißt: "Wenn jemand herausgefunden hatte, wo es billiges Essen gab, dann machte das sofort die Runde", sagt Tanja, die Kunst studiert. Noch etwas verbindet: der Stolz, an dieser Hochschule zu studieren. "Es klingt vielleicht komisch, aber wir wissen, dass die Tradition der EHU durch uns weiter lebt", sagt Anastasjia. An die Grenzkontrollen haben sie sich längst gewöhnt. "Vor einem Jahr mussten wir sogar Notebooks herzeigen und Dokumente im Computer öffnen, um zu beweisen, dass wir Studenten sind", sagt Tanja. Damals, im März 2006, protestierten tausende Demonstranten in Minsk gegen die gefälschte Präsidentschaftswahl. Die Behörden waren in höchster Alarmbereitschaft. Viele Weißrussen hofften auf das Ende der Herrschaft von Lukaschenko, doch "Europas letzter Diktator", wie er oft genannt wird, saß die Krise aus. Nichtregierungsorganisationen schätzen, dass bis zu 370 Studenten wegen der Protestaktionen exmatrikuliert wurden. Auch die EHU-Leute waren verdächtig. Doch warum hat der Präsident so viel Angst vor einer Hochschule? In Litauen hat die EHU in der Rechts-Universität in einem Randbezirk von Vilnius ihr neues Zuhause gefunden. Von außen ist das graue Gebäude wenig einladend, innen sind die Hörsäle modern, aber gesichtslos. In einem kleinen Büro im Erdgeschoss ist die Verwaltung untergebracht, dort ist ein Schreibtisch für die Studentenvertretung reserviert. Anastasija kontrolliert ihre E-Mails, plaudert auf Russisch mit zwei Dozenten, berichtet auf Englisch über Aktivitäten der Studenten. Immer wieder streut sie Sätze auf Deutsch ein, ihrer zweiten Fremdsprache. Überall, egal ob auf den Gängen oder während der Vorlesung, trifft man auf diese Vielzahl von Sprachen, zwischen denen die Studenten scheinbar mühelos hin und her hüpfen. Manchmal ist auch Litauisch zu hören - alle EHU-Studenten müssen die Sprache lernen. Ansonsten sieht man die neuesten Klapp-Handys und MP3-Player, und viele Mädchen haben sich herausgeputzt, als ginge es nach der Vorlesung sofort in den Club. Anders als in Minsk sind Läden wie "Zara" oder "Mango" längst in Vilnius angekommen: "Meine weißrussischen Freundinnen kommen zum Shoppen nach Vilnius", sagt Anastasija. Wegen der vielen Touristen ist Vilnius internationaler und hat eine lebendigere und vielfältigere Musikszene als das drei Mal größere Minsk. Man könne in beiden Städten gut weggehen, meint Anastasija. Es ist nicht so, dass in den EHU-Seminaren Anti-Lukaschenko-Plakate geschrieben oder im Wohnheim Strategien für den Umsturz entworfen werden. Man halte sich aus der Politik heraus, versichert Rektor Anatoli Michailow: "Wir bilden keine Oppositionellen aus, sondern Spezialisten, die Weißrussland beim Übergang zur Demokratie helfen." Alexander Filatow, ein 25jähriger Dozent, der 2004 sein Philosophiestudium an der EHU abgeschlossen hat, glaubt zu wissen, wieso Lukaschenko die Uni vertrieben hat: "Sein Regime überlebt, weil die meisten Menschen immer noch denken wie zu Zeiten der Sowjetunion. Der Staat ist für alles verantwortlich und der Einzelne sucht seine Nische oder sitzt vor dem Fernseher." Deswegen fürchteten Lukaschenkos Bürokraten kritische und unabhängige Menschen. Die EHU wurde 1992 in Minsk als Privatuniversität gegründet, um nach dem Kollaps der UdSSR einen ideologiefreien Ort für die Wissenschaft zu schaffen. Kurz darauf galt die EHU, die sich über Studiengebühren und ausländische Unterstützung finanzierte, als Vorbild für ganz Osteuropa. Die Uni hatte Kontakte zu Dutzenden Universitäten im Ausland, holte internationale Dozenten nach Minsk. Unterrichtet wurde auf Russisch, Englisch, Französisch oder Deutsch, und jeder Student absolviert im ersten Jahr ein studium generale mit Fächern wie Geschichte, Philosophie, Politik und Sprachen, bevor er sich spezialisiert - damals wie heute. Im Sommer 2004 kam das Ende für die Uni - nach einer für Weißrussland typischen Methode durch einen bürokratischen Trick. "Die EHU hatte ihr Gebäude jahrelang von der Präsidenten-Administration gemietet. Also kündigte man den Mietvertrag und zwei Tage später entzog das Bildungsministerium die Lizenz", berichtet Alexander. "Und die Begründung? Die EHU habe keine geeigneten Räume mehr für den Lehrbetrieb." Alexander war einer der letzten Studenten, die in Minsk ihr Diplom erhielten. Es flossen viele Tränen - nicht aus Freude, sondern aus Trauer über das vermeintliche Ende der Universität. Lernen in der Tat Mittlerweile bekommt die EHU Geld von der Europäischen Kommission oder US-Stiftungen und ist in Litauen registriert. Doch noch immer ändern sich die Stundenpläne häufig: Wie Alexander pendeln die meisten der 100 Dozenten zwischen Minsk und Vilnius und geben die Kurse als Blockseminare. "Das Arbeitspensum ist sehr hoch", sagt Alexander, aber anders gehe es eben nicht. Klagen hört er jedoch nicht. Die Weißrussen, findet er, seien viel ehrgeiziger, da sie studierten, weil sie in der Tat lernen wollen. Es sind wohl zwei Gründe, weshalb sich die jungen Weißrussen durchbeißen. Erstens kennen alle das Bildungssystem in der Heimat: Die Bücher stammen teilweise noch aus der Sowjetzeit, und Tanja berichtet, es werde nicht diskutiert, sondern stur auswendig gelernt. Sie hat einige Semester Lehramt in Minsk studiert. Zudem schottet sich das Land weiter ab: Keine Uni nimmt am Erasmus-Programm teil, wer im Ausland studieren will, braucht eine Unterschrift - vom Bildungsminister persönlich. Die EHU-Studenten können ins Ausland gehen, allerdings stoßen sie dort auf Probleme, die viele gleichaltrige Europäer nicht kennen. Für jedes Land müssen sie ein eigenes Visum beantragen, was ebenso teuer wie langwierig ist. Die für Erasmus-Aufenthalte typische Europa-Rundreise muss meist entfallen. Der zweite Grund ist etwas pathetischer und träumerischer: Fast alle EHU-Studenten wollen später trotz ihrer guten Ausbildung und dem halben Dutzend Fremdsprachen in einem freien Weißrussland arbeiten. Die Journalistik-Studentin Palina verkündet: "Ich möchte mithelfen, dass mein Land seinen Weg nach Europa findet." Sie glaubt fest daran, dass ihre Generation etwas verändern kann: "Über das Internet kriegen die Jüngeren mit, was in Europa passiert und sehen, welche Möglichkeiten Leute in ihrem Alter haben." Während ihres Austauschsemesters in Münster hat sie Kontakte zu vielen jungen Journalisten geknüpft. Es sei wichtig, sagt sie, dass Weißrussland vom Rest der Welt nicht vergessen werde. Auch in den Seminaren geht es immer wieder um die Situation in der Heimat. Wenn Alexander über die griechischen Philosophen und deren Vorstellung eines idealen Staates spricht, ist ein Vergleich mit Weißrussland nahe liegend. Lukaschenko hat die Verfassung geändert, um mehr als zwei Amtsperioden zu regieren. Seit einem Jahr kann jemand für drei Jahre ins Gefängnis wandern, wenn er Weißrussland oder den Präsidenten beleidigt. Die Presse ist gleichgeschaltet, der Geheimdienst heißt immer noch KGB und ist weiterhin sehr aktiv. Bisher wurden die Familien der Studenten in Ruhe gelassen - nur vereinzelt kam es vor, dass Vorgesetzte deutlich machten, sie wüssten genau, wo die Kinder studierten. Palina, Tanja und Anastasija sagen, sie hätten keine Angst um ihre Eltern und Geschwister. "Wir sind alle in der gleichen Situation und können darüber reden", sagt Palina. Dies sei eine große Hilfe. Die meisten haben sich mit der Situation arrangiert, doch eine gewisse Zerrissenheit ist in den Gesprächen zu spüren. Sie habe ein seltsames Gefühl während der Fahrt nach Hause, sagt Tanja: "Ich freue mich, weil ich meine Familie und meine Freunde treffe. Minsk ist ja mein Zuhause. Aber dann sehe ich die große graue Stadt und an jeder Ecke steht ein Polizist - das deprimiert mich." Pawel, der Kulturwissenschaft belegt hat und später Film studieren will, schaltet in Minsk nie den Fernseher an: "Die Propaganda regt mich zu sehr auf." Die meisten können nur einmal pro Monat für ein Wochenende nach Weißrussland fahren - zu kurz, um sich einzuleben. Sie sitzen dann im Zug, ohne zu wissen, wie es beim nächsten Besuch aussehen wird. Denn neben der Hoffnung bleibt die Unsicherheit das bestimmende Gefühl, solange Präsident Lukaschenko in Weißrussland regiert und man ein Visum braucht, um von Minsk nach Vilnius zu fahren. Collage: katharina-bitzl