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Das Agenten-Internat 581106
Vier Wochen bevor Julian seine Ausbildung begann, läutete bei seiner Tante das Telefon. Der Mann am anderen Ende der Leitung hatte seltsame Fragen: Ob ihr Neffe verschuldet sei? Alkohol- oder spielsüchtig? Was er in seiner Freizeit mache? Und, ganz grundsätzlich, was für ein Mensch er so sei?
Die größte Hürde hatte Julian damals schon hinter sich. Die Online-Bewerbung, den Multiple-Choice-Test über Geschichte, Politik und Englisch. Den Aufsatz über Nationalsozialismus, die Gruppendiskussion, ein Einzelgespräch und die Standard-Beamtenuntersuchung. Bevor er endgültig die Zusage von der Schule des Bundesamts für Verfassungsschutz bekam, fehlte nur noch eines: die Sicherheitsüberprüfung. Als Schüler dort hat er die höchste Sicherheitsstufe, Ü3. Das bedeutet, er hat Zugang zu Verschlusssachen. Denn Julian wird Verfassungsschützer.
Zwei Jahre ist der Anruf bei seiner Tante her. Inzwischen ist Julian in der Laufbahnlehrgangsklasse M2012, das M steht für „mittlerer Dienst“. In Wirklichkeit heißt Julian anders. Seinen echten Namen verrät er nicht, als Alter gibt er nur „Mitte 20“ an. In Jeans, Karohemd und Turnschuhen sitzt Julian heute in einem Prüfungssaal in seiner Schule in Heimerzheim, 45 Kilometer von Köln entfernt. Er ist nicht allein, zwei Klassenkameraden sitzen neben ihm. Und gegenüber sein Schulleiter und drei Dozenten. Sie passen auf, was er erzählt.
Zwei Klassen starten jedes Jahr beim Verfassungsschutz. Die eine in den mittleren und die andere in den gehobenen Dienst, in einem dualen Studium an der Fachhochschule des Bundes in Brühl. Für den Praxisunterricht kommen die Schüler hierher, in den einstöckigen 80erjahre-Bau auf dem Gelände der Bundespolizei-Kaserne. Auf der Terrasse stehen weiße Sonnenschirme, es gibt einen Tennisplatz, eine Kegelbahn und in der Kantine Frikadellen mit „Leipziger Allerlei“. Von außen sieht es aus wie ein Schullandheim. Aber eines, das nicht gefunden werden will: Die Adresse steht weder im Telefonbuch noch im Internet.
Seine Freunde denken, er arbeite beim Verwaltungsamt. Das ist ihm recht
Man merkt Julian seine Anspannung an. Nicht wegen der Englisch-Hausaufgabe, die er noch fertig machen muss, sondern weil er es nicht gewohnt ist, mit Fremden über seine Ausbildung zu sprechen. Nur wenige Menschen wissen von seiner Berufswahl – die Familie, die engsten Freunde. Wenn ein Auszubildender mit dem Freund oder der Freundin zusammenzieht, wird der Partner in die Sicherheitsüberprüfung eingeschlossen. Dann klingelt bei dessen Verwandten das Telefon. Ob Julian eine Freundin hat, sagt er nicht. Die meisten seiner Freunde denken, er arbeite in Köln beim Bundesverwaltungsamt oder bei der Bundeszentrale für politische Bildung. Wenn er sage „öffentlicher Dienst, Verwaltungskram“, fragten die meisten nicht nach. Über seine Arbeit darf er auch mit denen, die sein Geheimnis kennen, nicht sprechen. Auf Facebook ist er mit einem Pseudonym angemeldet.
Julian gibt das heute nicht zu, aber der November 2011 muss seltsam für ihn gewesen sein: Die Bewerbungsfrist beim Verfassungsschutz war eben abgelaufen, und plötzlich verlangten Politiker und Medien die Abschaffung, wenigstens die Totalreform seines künftigen Arbeitgebers. Auch im NSU-Prozess, der seit April in München läuft, taucht diese Forderung immer wieder auf. Über Jahre hinweg hatten Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt im Namen des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ mutmaßlich zehn Menschen ermordet. Unbemerkt von der Polizei, aber vor allem: unbemerkt vom Verfassungsschutz. Als einer der drei Nachrichtendienste in Deutschland beobachtet die Behörde extremistische und verfassungsfeindliche Aktivitäten im Inland, im Gegensatz zum Bundesnachrichtendienst, der sich aufs Ausland konzentriert, und zum Militärischen Abschirmdienst, der die Bundeswehr bewacht.
Die Erwartungen an die nächste Generation von Verfassungsschützern sind seit dem Skandal hoch. Sie sollen, sie müssen in Zukunft solche Versäumnisse verhindern. Julian hat das zusätzlich motiviert, sagt er – zurückziehen kam für ihn nicht in Frage. Insgesamt seien die Bewerbungen nicht weniger geworden, unterbricht ihn in diesem Moment der Schulleiter. Um die 1 600, sagt er, gingen jedes Jahr für jeden der Ausbildungswege ein.
Die Schule für Verfassungsschützer will nicht gefunden werden: Sie steht weder im Telefonbuch noch im Internet. Das Foto ist aber echt.
Julian beschäftigte sich schon mit dem Problem des Rechtsextremismus, bevor der NSU aufgedeckt wurde. Ein paar Mal hat er gegen den NPD-Bundesparteitag demonstriert. In der Schule hörte er vom Verfassungsschutz. „Wir hatten im Zeitraum von 1933 bis 1989 zwei Diktaturen“, sagt er. „Ich will helfen, dass so etwas nie wieder passiert.“ Er spricht von der Weimarer Republik, dann sagt er: „Wir arbeiten nicht gegen die Bürger, sondern für sie!“ Er sagt es schon zum zweiten Mal, seine Klassenkameraden lächeln sich verstohlen an.
Man merkt, was Julian sagt, meint er ernst; auch wenn es gelegentlich klingt, als zitiere er aus Richtlinien für Verfassungsschützer. Er überlegt sehr genau vor jeder Antwort, blickt zu seinem Schulleiter, als warte er auf ein Zeichen. Bevor er sagt, in welchem Bereich er nach seinem Abschluss arbeiten will, fragt er nach. Darf er das verraten? Der Schulleiter nickt: Er darf. „Regierungssekretäranwärter“ ist Julian nach seiner Ausbildung, er fängt klassischerweise als Sachbearbeiter an. Oder in einem Observationsteam. Das wäre ihm am liebsten, statt Innendienst auch beobachten, beschatten – „beschaffen“, wie man hier sagt. Wenn möglich im Bereich Rechtsextremismus.
Der steht in Julians Stundenplan zwischen Linksextremismus, Islamismus, Terrorismusabwehr, Geheim- und Sabotageschutz sowie Länderkunde und Verwaltungstechnischem wie Kassenwesen. Aufregender wird es in den praktischen Übungen. In „Gesprächsführung“ lernen Julian und seine Klassenkameraden den Umgang mit V-Leuten, in „Auswertung“, wie sie mit einem Hinweis auf einen möglichen Anschlag umgehen. Und in den „Observationslehrgängen“, wie man jemanden beschattet. Mehrmals in den zwei Jahren Ausbildung üben sie das in ganztätigen Seminaren: Ein Schüler spielt die Zielperson, die anderen verfolgen ihn, im Auto, in Düsseldorf zu Fuß am Rhein entlang, vielleicht in ein Restaurant. Sie dürfen ihrer Zielperson nicht zu nahe kommen. Aber auf keinen Fall dürfen sie sie aus den Augen verlieren. Mehr darf Julian leider nicht sagen.
Es gibt kein WLAN, Smartphones sind verboten
Die meiste Zeit ist es an der Agenten-Schule aber nicht so geheimnisvoll. Es gibt Klassensprecher, an der Wand hängen Fotos von Abschlussjahrgängen: Einer hat sich den Namen „Black Ops“ gegeben, wie der siebte Teil der Videospielreihe „Call Of Duty“. In den Klassenzimmern stehen die Tische in U-Form, auf den Fensterbänken liegen Anwesenheitslisten, die Whiteboards sind feinsäuberlich gelöscht.
Man muss genauer hinsehen, um zu merken, dass die Schule keine normale ist. In den Vitrinenschränken im Flur stehen keine Ski-Pokale. Dort liegen NPD-Flyer und CDs mit Titeln wie „Mein Deutschland“. Unterrichtsmaterial. Die Bibliothek hat eine Abteilung nur über internationalen Terrorismus. WLAN gibt es nicht, Smartphones sind im Lehrtrakt und sogar in der Kantine verboten, dafür stehen im „Internetraum“ fünf Computer.
Angeschlossen an die Schule in Heimerzheim ist eine Art Internat – Internatsrituale inklusive. Um fünf haben die Nachwuchs-Verfassungsschützer frei, um acht schauen sie gemeinsam die „Tagesschau“. Danach sitzen sie in der Kantine oder gehen im nächsten Ort ins Kino. „Wir machen ganz normale Sachen“, sagt Julian. Normalität, zumindest der Schein davon, ist ihm wichtig. Wie dem gesamten Verfassungsschutz. Denn der Inlandsnachrichtendienst versucht transparenter zu werden – seit dem Auffliegen des NSU, und erst recht seit dem NSA-Abhörskandal. Seit immer wieder von Versäumnissen die Rede ist, von geschredderten Akten, verschwundenen Beweisen und „blinden rechten Augen“, werden Stellen beim Verfassungsschutz öffentlich ausgeschrieben. Man präsentiert sich auf Bildungsmessen und organisiert Ausstellungen über Rechtsradikalismus. Der Verfassungsschutz will sich öffnen. Was bei einem Geheimdienst naturgemäß nur bis zu einem bestimmten Grad funktionieren kann.
Denn ganz transparent soll und darf die Arbeit als Spion nie werden, daran wird Julian mehrmals täglich erinnert. Als er am Ende des Gesprächs aufsteht und durch die Tür den Saal verlässt, passiert er einen grauen Kasten. Vor fast jedem Klassenzimmer steht einer. Man übersieht diese Kästen leicht, dabei stehen sie dort wie eine Art Mahnmal: an die NSU-Akten, und an den Druck, der auf Julian und seinen Klassenkameraden lastet. Die grauen Kästen sind Aktenvernichter.