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Coole Masche: Stricken ist das neue Yoga

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An jedem Sonntag treffen sie sich um 17 Uhr in einem Haidhauser Cafe, egal bei welchem Wetter: Immer sitzen sie in derselben Ecke des hohen Raumes, mal zu viert, mal zu zwölft. Sie nennen ihre Gruppe Stitch ’n Bitch und das beschreibt ziemlich genau, was sie in den kommenden Stunden tun. Die jungen Frauen und Männer, fast alle Anfang 20, fast alle sogenannte Expats – ständig im Ausland lebende englischsprachige Menschen – holen nacheinander eine Tasche mit ihrer angefangenen Handarbeit heraus, bestellen sich ein Getränk und dann geht es los. Sehr lebhaft wird von der vergangenen Woche erzählt, gelästert und nebenher entstehen unter ihren Händen Schals, Mützen, Socken, Deckenund was sich sonst noch mit Nadel und Faden herstellen lässt.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Victor ist einer von ihnen. Er ist 25, stammt aus Thailand und studiert in München Politik. Er weiß noch genau, wann er zum ersten Mal Stricknadeln in die Hand genommen hat. Das war im Dezember vor zwei Jahren, als sein damaliger Freund ihm im Streit riet, sich endlich ein Hobby zu suchen. Und genau das tat er: Victor begann zu stricken. „Im Internet habe ich mir mit Hilfe einer Seite die Grundbegriffe selbst beigebracht und losgelegt; innerhalb von vier Tagen hatte ich die wichtigsten Handgriffe drauf.“ Bis er fertig war und feststellte, dass er nicht wusste, wie man ein Strickstück beendet. Wieder im Internet fand er die Ankündigung einer Münchner Strickgruppe, eben jener, die er heute leitet. Er ging hin, ließ sich von den erfahrenen Teilnehmern beibringen, wie man abkettet und hat seitdem nicht mehr aufgehört. Siegeszug der Wolle Es ist kein Zufall, dass „Stitch ’n Bitch“ von Expats gegründet wurde. Denn die aktuelle Wiederentdeckung der Handarbeit geht von Amerika aus. Dort hat eine Frau fast im Alleingang das Bild der Handarbeit erneuert: Martha Stewart, millionenschwere Unternehmerin. Sie hat in ihren Fernsehsendungen, Zeitschriften und Büchern den Amerikanern gezeigt, dass Selbstgemachtes nicht zwangsläufig kitschig und überflüssig sein muss, sondern modern, individuell und elegant sein kann. Gleichzeitig zu dem Siegeszug von Frau Stewarts Medienimperium entwickelte sich in der alternativen feministischen Szene der amerikanischen Großstädte aus der Riot-Grrl-Bewegung eine Abspaltung, die den Do-It-Yourself-Gedanken weiter entwickelte: Statt Musik und Fanzines selbst herzustellen, begannen junge Frauen, sich ihren Kleiderschrank und ihre Wohnung in Eigenregie aufzumöbeln. Vor allem eine junge Frau, Debbie Stoller, Gründerin des feministischen Frauenmagazins „Bust“, fand ab 1999 Gefallen an dieser Do-It-Yourself-Bewegung (DIY). Sie gründete in New York eine öffentliche Strick-Gruppe und schrieb ausführlich in ihrem Magazin darüber, wodurch sie viele junge Frauen in ihrer Zielgruppe beeinflusste. Der Do-It-Yourself-Gedanke ist für sie und ihresgleichen der Inbegriff dessen, was die Riot-Grrl-Bewegung und Punk-Haltung ausmacht: kritische Konsumhaltung, Anti-Establishment, Dekonstruktion und Rekonstruktion – eine natürliche Reaktion auf die uniformierten H&M-Gestalten, die in den Fußgängerzonen aller Städte auftauchen, sowie auf die uneingeschränkte Vereinnahmung des Underground durch den Mainstream, die es fast unmöglich macht, sich von eben dem deutlich zu unterscheiden. Der Gedanke des Selbermachens ist auch eine Reaktion auf die Erkenntnis, dass uneingeschränkter Konsum nicht ethisch ist und nie sein kann. Wer dagegen seine Kleidung selbst herstellt, weiß, unter welchen Bedingungen sie entstanden ist, schätzt den Wert von Arbeit anders und hat vor allem ein völlig individuelles Kleidungsstück am Leib. Noch ein bisschen weiter gehen die Macher von Knitta, Please: Die Gruppe entstand 2005 im texanischen Houston, als frustrierte Handarbeiter beschlossen, ihre angefangenen Strick-Werke für einen guten Zweck zu entfremden: Fortan strickten sie Schals für Ampel-Anlagen, verhüllten hässliche Straßenschilder und bombardierten ihre Städte mit dieser sehr flauschigen Form des Graffiti. Mittlerweile gibt es Handarbeits-Clubs junger Menschen für fast jeden Geschmack: Zirkel, in denen das betrunkene Stricken zelebriert wird, Häkel-Gruppen, sogar eine Strick-Kirche. Handarbeiten ist für diese Menschen Rock'n Roll, auch wenn sie immer wieder mit den alten Vorurteilen zu kämpfen haben. Das kennt auch Victor: „Wir wollen weg von dem alten Stereotyp, dass Menschen, die handarbeiten, zu Hause vor sich hin werkeln und komische Sachen machen.“ Auch deshalb ist es für diese neue Bewegung wichtig, sich an öffentlichen Orten zu treffen und vor den Augen Aller an ihren Stücken zu arbeiten. Auf der nächsten Seite: von Blogger, den olympischen Strick-Spielen und dem großen Unterschied zwischen Deutschland und Amerika


Eine andere Entwicklung hat die DIY-Bewegung ebenfalls zu einem massenwirksamen Trend anwachsen lassen: das Web 2.0. Vor allem in der englischsprachigen Community gibt es unzählige Blogs zum Thema. Und die sind hervorragend mit einander vernetzt. Für Victor ist das nicht weiter verwunderlich: „Menschen, die stricken, sind Sozialwesen, sie müssen kommunizieren.“ Er selbst hat einen zweisprachigen Strick-Blog und zusammen mit seinen Freundinnen Kris und Evangeline von „Stitch ’n Bitch“ vor einigen Wochen den Podcast Knitters Uncensored gegründet. Bisher haben sie schon über 600 Abonnenten.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Victor, Politikstudent und Chef der Strick-Gruppe "Stitch'n Bitch" Über das Internet werden die sozialen Bedürfnisse der neuen Strick-Generation abgedeckt: „Wir schreiben einander und übereinander, zeigen in unseren Blogs, woran wir gerade arbeiten. Wenn einer ein neues Muster entdeckt hat, wird das kurzerhand von anderen einfach nachgestrickt und dann wieder hergezeigt.“ Sogar eine Strick-Olympiade wurde im vergangenen Jahr abgehalten. Die hat die Grande Dame der Strick-Blogger- Szene ins Leben gerufen, Yarn Harlot, kanadische Bloggerin und Buch-Autorin. Gedacht als Scherz, haben am Ende Tausende mitgemacht. Die Regeln waren schlicht: Man konnte planen, aber erst, als das olympische Feuer entzündet wurde, durften die Maschen angeschlagen werden. Die Strick-Blogosphäre gefällt Victor auch deshalb so gut, weil er darüber viele Leute kennen lernt und vor allem von ihrer Hilfsbereitschaft überwältigt ist. „Menschen, die stricken, sind nett. Als ich mich zum Beispiel vor einiger Zeit in meinem Blog darüber beklagt habe, dass ein bestimmtes Magazin ständig ausverkauft war, lag ein paar Wochen später eins in meinem Briefkasten.“ Die Münchner Strickeria Obwohl sich ein Großteil der Handarbeits-Szene im Internet abspielt, sind auch die Mitglieder von „Stitch ’n Bitch“ auf das Angebot von lokalen Händlern angewiesen. Victor bietet Neuankömmlingen seiner Gruppe immer an, mit ihnen zusammen durch die Stadt zu gehen und ihnen zu zeigen, wo man sich mit Wolle, Nadeln und anderen Notwendigkeiten eindecken kann. Aber richtig froh macht ihn das Münchner Angebot nicht. Die wenigen verbliebenen Handarbeitsgeschäfte sind auf die alte, konservative Klientel eingestellt. In Deutschland hat man das Bedürfnis der jungen DIY-Szene noch nicht wahrgenommen. Das zeigt sich vor allem auf dem Zeitschriftenmarkt. „Die deutschen Magazine sind wahnsinnig konservativ. In Amerika dagegen gibt es die extrem modische Vogue Knitting, das einfachere und jugendliche Simple Knit oder die hippe Knit One.“ Das einzige jüngere deutsche Magazin Verena wird voraussichtlich im August eingestellt. Allzu schlimm ist das für die Mitglieder von „Stitch ’n Bitch“ aber nicht, denn die bekommen fast all ihre Anleitungen und Inspirationen aus dem Internet. Auch die Wolle. Denn auch da hinkt Deutschland nach. In Amerika hat sich im Zuge der Indie-Craft-Bewegung eine „Indie-Dyer“-Szene etabliert. Das sind oft Ein-Mann-Betriebe, die ihre Wolle selbst spinnen und färben und in kleinster Stückzahl über das Netz verkaufen. In Deutschland kennt Victor momentan nur eine, die das auch macht: „Wollmeise“, die ihre Knäuel ebenfalls übers Internet verkauft. Mittlerweile gibt es auch eine deutschsprachige Strickgruppe in München, die nach dem Vorbild von „Stitch ’n Bitch“ gegründet wurde: die Münchner Strickeria. Seit einem Jahr treffen sie sich einmal pro Woche in einem Schwabinger Restaurant zum gemeinschaftlichen Handarbeiten. Wer selbst einmal zu einem Treffen einer dieser Gruppen gehen will, dem rät Victor, nichts mitzubringen: „Wir haben immer ein extra Knäuel Wolle und Nadeln dabei, damit die Neuen sich nicht mit den ja doch auch ein bisschen teuren Sachen eindecken, nur um dann festzustellen, dass es ihnen nicht gefällt.“ Foto: shernoh.de Auf der nächsten Seite gibt es eine Anleitung zu Selberstricken


Eine kleine Anleitung für ein selbstgemachtes MP3-Säckchen

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

So geht rechts stricken: Mit der rechten Nadel von links in die Masche auf der linken Nadel stechen, den Faden von hinten hilen, durchziehen, auf die rechte Nadel legen, fertig. 20 Maschen mittlerer Wolle anschlagen, 35 Reihen glatt rechts stricken (Hinreihe rechts, Rückreihe links), die drei letzten Reihen kraus rechts stricken (Hinreihe rechts, Rückreihe rechts). Abketten.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

So geht links stricken: Mit der rechten Nadel hinter der linken Nadel von rechts in die Masche stechen, Faden von hinten holen, durchziehen, auf die rechte Nadel legen, fertig. 19 Maschen mit der selben Wolle anschlagen, 36 Reihen glatt rechts stricken. 16 Reihen kraus rechts stricken, dabei in jeder vierten Reihe zwei Maschen abnehmen (am besten am Rand).

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

So geht abketten: Zwei rechte Maschens tricken, dann die hintere MAsche mit der linken Nadel über die vordere Masche heben. Eine weitere Masche stricken, etc... Bis zu letzten Masche, durch die einfach den verbliebenen Faden ziehen, fertig. 17. Reihe: Knopfloch: Vier Maschen stricken, drei Maschen abketten, vier Maschen stricken; 18. Reihe: Vier Maschen stricken, vier Maschen anschlagen, vier Maschen stricken. Vier Reihen kraus rechts stricken, dann abketten.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Voila: Das fertige Produkt mit Füllung Beide Teile auf links aufeinanderlegen und zusammennähen, umdrehen, Knopf annähen, MP3-Player reinstecken, fertig.

Text: christina-waechter - Illustrationen: Katharina Bitzl

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