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Berliner Arroganz und Münchner Freiheit

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Heutzutage besteht die Haupt-Daseinsberechtigung von München darin, dass die Leute in Berlin mit ihrem Leben zufriedener sein können. Wann immer das Gespräch auf München kommt, werden Eliteberliner – ohne Ausnahme – plötzlich sehr erzürnt und aufgebracht, vor allem die aus Berlin-Mitte. An diesem Punkt sollten Sie sich auf einen dreißigminütigen Vortrag darüber gefasst machen, wie konservativ, ahnungslos und rückständig München doch ist im Vergleich mit dem kreativen, politisch aktiven, individualistischen und insgesamt trendigeren Berlin.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Wie Hetztiraden es so an sich haben, enthüllen sie immer mehr über das dürftige Selbstbewusstsein und die fragile Psyche des Hetzers als über den Gegenstand der Hetze selbst. Für einen neutralen Beobachter ist es wirklich amüsant zu erfahren, dass Berlin, die selbsternannte Hauptstadt der Kreativität, Kunst, Konterkultur und bezahlbaren Altbauwohnungen mit Parkettboden, sich offenbar unaufhörlich herausgefordert fühlt, ihre vermeintliche Überlegenheit mit einer Provinzstadt zu messen, die nur ein Viertel so groß ist und sich etwas darauf einbildet, Tummelplatz für massenweise deutsche D-Promis zu sein, von denen kein Mensch je gehört hat. Erwähnen Sie diesen Widerspruch Ihren deutschen Bekannten gegenüber nicht, sondern benutzen Sie ihn weise, um ihr Bild von Ihnen als interessanter Mensch, der sich hingebungsvoll bemüht, wie sie zu werden, erneut zu bestätigen: Lassen Sie von Zeit zu Zeit eine abfällige Bemerkung über „diese furchtbare, rückständige Stadt in Bayern“ fallen. Dabei kann es hilfreich sein, großzügig über die Tatsache hinwegzusehen, dass München auf der ganzen Welt genau dafür geliebt wird – für seinen charmanten Mangel an Ambitionen, sich mit viel größeren Städten, vor allem mit Berlin, zu messen. Konzentrieren Sie sich auf die Schattenseiten! Da es nahezu unmöglich ist, irgendwo eine vorurteilslose Meinung über München zu finden, könnten Sie in Versuchung geraten, hinzufahren und selbst ein paar Recherchen anzustellen. Überlegen Sie es sich aber gut, ob Sie Ihren deutschen Bekannten von Ihren Plänen erzählen. Wenn Sie sich versehentlich verplappern, sollten Sie sich auf der Stelle entschuldigen und eine akzeptable Begründung finden. Eine Variante wäre: „Ich wurde gebeten, nach München zu fahren, um dort bei einer Vernissage ein bisschen Indie Electronica aufzulegen. Gott, womit habe ich diese Marter bloß verdient?“, was Ihnen eine Menge Mitleidspunkte einbringen wird, und es könnte sein, dass Ihre deutschen Freunde Ihnen für den restlichen Abend die Getränke bezahlen. Zweite empfohlene Variante: Sagen Sie, Sie fahren im Rahmen eines Aktionskunstprojektes nach München, wobei es darum geht, dass Sie auf ironische Weise den typischen Münchner Lifestyle annehmen, inklusive hochgegelten Haaren, aufgestelltem Kragen, einem weißen VW Golf Cabrio und einem Besuch bei einem Bayern-München-Spiel, was Sie alles mit einer halb kaputten Super-8-Kamera filmen werden, um es später bei einer Guerilla-Ausstellung im hippen Neukölln zu zeigen.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Wenn Sie in München ankommen, könnte es passieren, dass Sie sich sofort zu Hause fühlen, denn die Leute in München scheinen sich, genau wie die coolen Berliner, den Look und die Mode der 80er zu Eigen gemacht zu haben. Lassen Sie sich aber nicht so leicht täuschen. . . sehen Sie genauer hin: Es liegt nicht die Spur Ironie in der Münchner Version, ein bestimmtes Jahrzehnt aufzusaugen und seine Mode, Musik und Grundhaltung anzunehmen, um die beängstigende Seichtheit der eigenen fragilen Persönlichkeit aufzufüllen. Bei einem Spaziergang in der Innenstadt werden Sie sofort bemerken, wie sauber und herausgeputzt sie ist. Das liegt daran, dass die Münchner in allem, was „Trend“ ist, so weit hinterherhinken, dass sie immer noch nicht den „Arm, aber sexy“-Lifestyle angenommen haben, der nur in einer rauen, düsteren Umgebung wie Berlin richtig gedeihen kann. Die hübschesten Stadtteile von München sind sogar so sauber und schick, dass sie an einem sonnigen Tag aussehen, als hätte Walt Disney sie sich ausgedacht und eine Bande Schweizer mit Zwangsstörungen hielte sie instand. Man fragt sich, ob München es je schaffen wird, den Umfang an Dreck, Müll und Verwesung – oder kurz gesagt, Sexiness – aufzuholen, den Berlin besitzt, oder ob es, was wahrscheinlicher ist, für immer in all seiner noblen und charmanten Bedeutungslosigkeit steckenbleiben wird. Wenn Sie ein Neuling in Deutschland sind, der sich der überlegenen, fortschrittlich denkenden Weltsicht der neuen Berliner Elite noch nicht ganz angeschlossen hat, seien Sie gewarnt: Bei einem Besuch in München werden Sie sich möglicherweise von der dunklen Seite angezogen fühlen. Insofern, als München tatsächlich all diese bösen, massenkompatiblen Vorteile besitzt, vor denen Ihre Berliner Freunde Sie immer gewarnt haben, wie Jobs, saubere Parks und freundliche Verkäufer in den Geschäften. Es mag aussehen und sich anfühlen wie das Deutschland, das Sie immer zu finden gehofft hatten. Sie könnten sogar verleitet werden, zu denken, an so einem Ort zu wohnen, könnte Sie am Ende glücklicher machen, als in einer Stadt zu leben, die hauptsächlich immer wieder versucht - und dabei scheitert – , eine billige, wenig ehrgeizige Kopie von Williamsburg, NYC zu werden. Im Gegensatz zu Berlin haben viele internationale Konzerne, wie die heißgeliebte Firma Apple, ihr Geschäft in oder um München eröffnet, so dass dort eine ganze Menge von diesen gut vergüteten, aber seelenvernichtenden und kreativitätsschädlichen Jobs zu haben sind. Die Leute in München scheinen noch nie vom Aufstieg der kreativen Klasse gehört zu haben und legen immer noch eine Art pervertierten Stolz auf ihre hochbezahlten Jobs an den Tag, die nicht einmal entfernt mit Kunst, Musik oder Bloggen zu tun haben. Noch widerwärtiger ist allerdings, wofür Münchner ihr Geld ausgeben. Ob es teures Haarefärben ist, protzige Autos oder super-wartungsaufwändige Frauen und Freundinnen: Wenn etwas Geldausgeben im Überfluss erfordert und einen gesunden Mangel an Bescheidenheit, dann finden Münchner es toll. Da haben Sie es – die fundamentale Schwäche von München. Seine Menschen sind immer noch zu sehr den repressiv-paternalistischen Mustern des letzten Jahrtausends verhaftet. Statt einfach Teil der städtischen Boheme zu werden und clever von den großzügigen staatlichen Förderungen zu leben, die die deutsche Regierung Künstlern zur Verfügung stellt, ziehen sie es vor, ihr eigenes, selbstsüchtiges Geld mit Arbeit in bösen multinationalen Konzernen oder Einzelhandelsgeschäften zu verdienen, die nicht einmal entfernt „spontan aus dem Nichts aufgetaucht“ oder ironisch sind. Also hören Sie auf mit dem Tagträumen und konzentrieren Sie sich wieder auf das Ziel Ihrer Mission: Denken Sie daran, Sie besuchen München, um sich selbst zu beweisen, wie cool Berlin ist, also sollten Sie keine Zeit verlieren und schon einmal anfangen, sich Notizen über all die lahmen (sprich: anders als in Berlin) Dinge zu machen, die Sie erleben. Nach Hause zurückgekehrt, wird es sich als höchst vorteilhaft für Ihre Beliebtheit bei Berlins Elite erweisen, wenn Sie München mit Hilfe von selbst erlebten Beispielen und bissigen Kommentaren schlechtmachen können. *** Der englischsprachige Blogger Wash Echte lebt in Berlin und beschreibt seine Sicht auf die Deutschen. Mehr davon gibt es im Internet unter www.ichwerdeeinberliner.com. Sein Buch erscheint im Herbst im Goldmann-Verlag.

Text: wash-echte - Fotos: photocase.com/Gräfin, photocase.com/Doesnotcare

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