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Beard und Bernhardt
Und Jesus sprach zu Simon: Fürchte dich nicht! Von nun an wirst du Menschen fangen.
Beard und Bernhardt haben noch etwas Zeit bis zum nächsten Termin. Für einige Minuten werfen sie ihr Netz dort aus, wo der Strom der Stadt besonders viele Fische anspült – am Eingang zur Münchner U-Bahnstation Harras. An einem sonnigen Freitagnachmittag stehen Beard, 21, und Bernhardt, 20, im Menschenstrom wie zwei Fischer. Sie tragen das gleiche weiße, kurzärmelige Hemd und die gleiche schwarze Hose und die gleichen schwarzen Schuhe. Sie sind in etwa gleich groß, haben das gleiche offene Lachen und den gleichen Haarschnitt.
„Was bedeutet ihnen ihre Familie?“, fragt Bernhardt eine junge Frau mit Kinderwagen. Die Frau hält inne, auf ihrem Gesicht zeichnet sich ein ,Hä?‘ ab. Beard lächelt, drückt ihr einen Zettel in die Hand, auf dem ein Bach, eine Wiese und die Worte „Der Plan des Himmlischen Vaters bringt uns Frieden und Freude“ zu sehen und zu lesen sind. Sie nimmt den Zettel, geht weiter.
„Wollen Sie mit dem Rauchen aufhören?“, fragt der blonde, strahlende Beard einen südländischen Mann, der sich gerade eine Zigarette angezündet hat. Der Mann sieht aus, als überlege er, ob die Frage eine Provokation sein soll, schüttelt aber angesichts des offenen Lächelns von Beard nur den Kopf und geht weiter. „Unser Ziel ist es, mit einem der Passanten einen Termin zu vereinbaren“, sagt Bernhardt.
Wenn Bernhardt spricht, zieht er die Vokale in die Länge, und er rollt die r-Laute sanft, ganz als sei er wie Beard ein Amerikaner, der sehr gut Deutsch spricht. Aber Bernhardt kommt aus Hannover und war noch nie in den USA. „Wir sind seit sieben Wochen jeden Tag zusammen, vielleicht färbt das ja ab.“
Offiziell heißen Bernhardt und Beard „Elder Bernhardt“ und „Elder Beard“. So steht es auf den schwarzen Namensschildern an ihrer Brust, und darunter steht „Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage“. In dieser an Genitiven so reichen Kirche bekommen männliche Gläubige den Beinamen „Elder“, was so viel wie „Ältester“ bedeutet. Frauen werden „Sister“ genannt. Besser bekannt sind die Gläubigen unter dem Begriff „Mormonen“. Da aber viele Abspaltungen existieren, die alle diesen Namen beanspruchen, nennt sich die größte Gruppe „Kirche Jesu Christi der Heiligen der letzten Tage“, kurz „HLT“. 38 000 Mitglieder gibt es in Deutschland. Sie haben keinen Sex vor der Ehe und trinken keinen Alkohol. Sie rauchen nicht und verzichten auf Tee und Kaffee. Sie glauben, dass ein Prophet im sechsten Jahrhundert vor Christus mit einer kleinen Gruppe aus dem Nahen Osten nach Amerika auswanderte. Die Nachkommen seien von Jesus Christus nach seiner Auferstehung besucht worden.
Die Lehren der Propheten wurden auf drei goldenen Tafeln niedergeschrieben. 1823 erschien dem Amerikaner Joe Smith ein Engel, der ihm von den Tafeln berichtete. Smith übersetzte sie ins Englische und gab sie dem Engel wieder zurück. Das Buch nannte er nach dem letzten Propheten „Mormon“. Seitdem wächst die mormonische Gemeinde – im amerikanischen Bundesstaat Utah stellt sie 60 Prozent der Bevölkerung.
Viele junge Mormonen gehen für 24 Monate auf Mission. Die Kosten tragen sie selbst. Für knapp 300 Euro im Monat leben sie in einem kleinen Zimmer in einem der vielen Häuser ihrer Kirche. Die Kirche entscheidet, an welchem Ort sie Gläubige werben sollen. Sie teilt die Missionare in Zweiergruppen ein. Beard und Bernhardt wohnen seit acht Wochen zusammen in einem Zimmer. Ihrer beider Eltern und Geschwister sind Mormonen – Beards Familie wohnt im Bundesstaat
Washington, Bernhardt kommt aus Hannover.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Bernhardt (links) und Beard
Weltweit gibt es etwa 13 Millionen Anhänger der HLT. In den USA soll sie die am schnellsten wachsende Religionsgemeinschaft sein. Gab es Ende der Neunziger Jahre noch 53 Tempel, sind es mittlerweile 122. Etwa 400 junge Missionare wie Beard und Bernhardt sind auf den Straßen deutscher Städte unterwegs. In Deutschland seien die Missionserfolge aber eher gering, heißt es in einem Bericht der „Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen“.
„Wir freuen uns über jeden Neueintritt, aber wir führen nicht Buch darüber, wer wie viele Menschen zur Kirche geführt hat“, sagt Ralf Grünke, zuständig für die Öffentlichkeitsarbeit der HLT in Europa. „Die Tätigkeit der circa 400 Missionare ist auf jeden Fall erfolgreich. Wir kennen weder leere Gotteshäuser noch Massenaustritte. In Deutschland ist die Anzahl der Mitglieder stabil beziehungsweise wächst sehr langsam.“
Es ist neun Uhr an einem verregneten Donnerstagmorgen. Das Zimmer des Gemeindehauses in Solln, in dem sich Beard und Bernhardt ein kleines Zimmer teilen, erinnert an ein amerikanisches Wohnzimmer mit schweren lackierten Holzmöbeln und Bildern an der Wand. Auf einem Schild steht geschrieben: „Mis-sio-nary: Someone who leaves his or her family for two years so that others may be with their families for eternity.“ Beard stimmt ein Lied an, beide singen zusammen den Refrain „Ich weiß, mein Vater lebt.“ Anschließend schlägt Beard den „Missionsleitfaden“ auf und liest laut: „Jesus kann Menschen glücklich machen, auch wenn sie eine falsche Entscheidung getroffen haben.“
„Das ist gut für Herrn Obermayer, den wir gestern besucht haben“, sagt Bernhardt.
„Er ist viel glücklicher, seit er das Evangelium gelesen hat“, meint Beard. „Er wird immer besser, das ist toll."
Bevor die beiden aufbrechen, um zu missionieren, lesen sie abwechselnd laut in den dünnen 700 Seiten des Buches Mormon, das mittlerweile in über 100 Sprachen übersetzt worden ist. Um 21 Uhr werden beide zurückkehren, nochmals in der Bibel lesen und schließlich schlafen.
„Während ihrer Missionszeit haben die jungen Männer so gut wie keinen Kontakt zu ihrer Familie“, sagt Axel Seegers. Der Theologe arbeitet bei der Erzdiözese München und Freising im Fachbereich Sekten- und Weltanschauungsfragen. „Viele junge Menschen wollen nach der Schule Erfahrungen machen, etwas erleben und Menschen kennenlernen.“ Seegers kritisiert, dass die jungen Männer sich ausschließlich auf die Mission konzentrieren. „Im Unterschied zu einem Freiwilligendienst hat die Missionstätigkeit keinen karitativen Charakter. Die Missionare sind in ein starres Korsett eingebunden. Der Tagesablauf ist strikt geplant. Das gibt Sicherheit und Halt, Spontaneität und Selbstständigkeit aber lernen die Missionare in dieser Zeit nicht. Sie kommen als Fremder in eine Stadt und verlassen sie als Fremder.“
Freitagnachmittag vor einem Mietshaus im Münchner Stadtteil Sendling, Beard und Bernhardt haben einen Termin mit Bruder Heinzel. Seine Frau, eine gebürtige Philippinin, ist bereits Mormonin, ihr Mann sträubt sich noch etwas, obwohl Beard und Bernhardt ihn nicht zum ersten Mal besuchen. Sie klingeln. Ein freundlicher Herr um die 50 öffnet und bittet sie ins Wohnzimmer, in dem eine Sitzgruppe um einen Flachbildfernseher arrangiert ist. Es riecht nach Mittagessen und Raumparfum. Bruder Heinzel reicht Wasser und Kekse.
Eigentlich ist Bruder Heinzel noch kein Bruder. Aber Beard und Bernhardt nennen ihn trotzdem schon einmal so, als ob das Heinzels Übertritt beschleunigen könne. Die beiden Jungs im kurzärmeligen weißen Hemd und Krawatte bitten Bruder Heinzel, die Stelle „Mosia 18:2-10“ aus dem Buch Mormon vorzulesen. Heinzel liest: „Und es begab sich: Er sprach zu ihnen: Siehe, hier sind die Wasser Mormon (denn so wurden sie genannt), und nun, da ihr den Wunsch habt, in die Herde Gottes zu kommen und sein Volk genannt zu werden, und willens seid, einer des anderen Last zu tragen, damit sie leicht sei.“ Beard fragt: „Bruder Heinzel, welche Fragen haben Sie an Gott?“ Bruder Heinzel weiß nicht so recht und rutscht auf dem blauen Sofa hin und her. Dann fragt er: „Wie streng ist das mit dem Alkohol?“
„Sehen Sie es einmal so, Bruder Heinzel“, sagt Bernhard. „Alkoholtrinken ist wie ein gefrorener Teich, auf dem das Eis zur Mitte hin immer dünner wird. Anfangs passiert nichts, aber wenn wir weitergehen, brechen wir irgendwann ein. Gott hat uns deswegen den Rat gegeben, am Rand stehenzubleiben. Wir sind sehr glücklich über diesen Rat. Probieren Sie es einmal aus. Nur für eine Woche, Bruder Heinzel!“
Bruder Heinzel zögert. „Ich würde ja gerne, aber was ist, wenn in der Woche gerade ein Fest ist?“
Beard und Bernhardt lachen. „Sonst ist es ja keine Herausforderung!“
„Wissen Sie“, sagt Bruder Heinzel. „Man sagt: Die Bayern haben ein mystisches Verhältnis zum Bier, aber ein profanes zum Jenseits.“
Beard und Bernhardt lachen jetzt lauter, hören dann aber auf. „Bruder Heinzel, probieren Sie es aus – nur eine Woche.“ Doch Bruder Heinzel ist ein harter Fall. Drei Wochen später hat er sich immer noch nicht an die Regeln gehalten.
„Die Mormonen sind eine ,christliche Sondergemeinschaft‘, sie selbst würden sich nie als Sekte bezeichnen“, sagt Dr. Michael Utsch von der Zentralstelle für Weltanschauungsfragen. Zu dieser Gruppe werden auch die Zeugen Jehovas und die Neuapostolische Kirche gezählt. Mit Organisationen wie Scientology sei die HLT aber nicht vergleichbar. „Uns sind kaum Berichte von Menschen bekannt, die Probleme haben, die Gemeinschaft zu verlassen. Sicherlich stehen manche Aussteiger unter einem psychischen Druck, insgesamt aber kommt das eher selten vor.“
Die Seite ex-mormonen.de ist eine Anlaufstelle für Aussteiger. Manche berichten von einer Abwendung ihrer Freunde und Familienmitglieder: „Meine Frau verließ mich plötzlich, ohne Vorwarnung, und sie nahm die Kinder mit. Ihre Freunde in der Kirche halfen ihr bei der Flucht, sie kehrte nach Zion zurück und reichte die Scheidung ein“, schreibt Richard Packham. Sven, der aus familiären Gründen anonym bleiben möchte, leitet seinen Erfahrungsbericht ein mit den Sätzen: „Das Abenteuer, auf was ich mich einließ, nämlich weiter zu denken, als die Kirche erlaubt, hat in meiner Jugend begonnen und hat vor über einem Jahr Konsequenzen nach sich gezogen. Es war psychisch ein extrem schmerzlicher Prozess. Ein Mensch, der in der Mormonenkirche aufgewachsen ist und von ihr dazu erzogen wurde, die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage als Erlösungs-Institution anzuerkennen, wird den Loslösungsprozess als traumatisch empfinden.“ Von psychischem oder gar physischem Zwang aber berichtet keiner der Aussteiger.
Es gibt in der Psychologie den Begriff der „kognitiven Dissonanz“, die immer dann entsteht, wenn Vorstellungen und Wirklichkeit nicht zusammenpassen. Menschen leben nicht lange in diesem Zustand, sie wollen den Widerspruch auflösen. Entweder passen sie ihre Einstellung an die Umwelt an, oder sie gehen den umgekehrten Weg und versuchen, die Umwelt an ihre Gedankenwelt anzupassen – zum Beispiel, indem sie andere Menschen von ihrem Glauben überzeugen und sie missionieren.
Beard und Bernhardt zweifeln selten. „Es ist wie beim Sport“, sagt Beard. „Manchmal muss man sich einen Ruck geben, weil man weiß, dass es einem gut tut.“ Was ist mit Mädchen? „Jetzt noch nicht. Momentan bin ich sehr froh, dass ich diesen ganzen Stress nicht habe“, sagt Bernhardt und lächelt, als sei das Leben eine Straße, auf der Abbiegen, Anhalten und Umdrehen nur Alternativen für Geistesgestörte sind. Beard knetet seine Finger und blickt ernster als sonst. Er wirkt zögerlich, doch dann stimmt er Bernhardt zu.
Bis zum nächsten Termin haben die beiden noch etwas Zeit, die sie nutzen wollen. Sie stellen sich an eine belebte Kreuzung und werfen ihr Netz aus. Dort draußen sind Menschen genug.
Text: philipp-mattheis - Foto: Juri Gottschall