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Ball rein, Frust raus

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An Weihnachten wollte Lukas seinem kleinen Bruder Jonathan ein Geschenk vorbeibringen. Aber seine Mutter ließ ihn nicht rein. Er wurde laut, schrie sie an, was ihr einfalle. Sie wurde noch lauter. Sein Vater kam raus. Die Männer schubsten einander herum – bis Lukas ging. Sechs Monate später sucht er die Schuld bei sich selbst. „Ich muss erst zeigen, dass ich mich wirklich geändert habe und dass ich mein Leben endlich im Griff habe“, sagt der 21-Jährige.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert


Lukas (links) und Ralf spielen in einer Obdachlosenmannschaft. Fußball hilft ihnen, ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen.

Dabei soll ihm vor allem eins helfen: Fußballspielen. Lukas kickt im Team des Adolf-Mathes-Hauses, eines Übergangswohnheims für Obdachlose in der Hans-Sachs-Straße im Glockenbachviertel. 55 Männer wie er, bei denen noch Hoffnung besteht, dass sie ihr Leben wieder auf die Reihe bekommen, lernen hier ein normales Leben zu führen: Aufstehen, auch wenn es schwer fällt. Das Zimmer regelmäßig aufräumen, sein Geld unter Kontrolle halten. Die Hälfte der ehemals Obdachlosen findet nach 18 Monaten im Adolf-Mathes-Haus eine Lehrstelle. Für ihre Motivation hat Sozialpädagoge Gabriel Schaub das Fußballteam gegründet. „Wenn ich mir die anschaue, sehe ich eine funktionierende Mannschaft“, sagt Schaub. „Auf dem Platz kann jeder zeigen: Ich kann was, ich bin wichtig für die Mannschaft.“

Lukas stammt eigentlich aus guten Verhältnissen: Ein großes Haus, mit 18 das erste Auto. Aber er hat eine cholerische Ader, lässt sich weder von Lehrern noch von seinen Eltern etwas sagen: Er schlägt sich und muss für vier Monate ins Gefängnis. Zurück in Freiheit, steht er auf der Straße. Ämter fühlen sich nicht zuständig, da er noch Jugendlicher ist, seine Eltern wollen auch nichts mehr von ihm wissen. Er übernachtet am Bahnhof. Drei Monate ist er ohne festen Wohnsitz. „Du denkst nur noch vom nächsten Essen zum nächsten Essen, vom nächsten Joint zum nächsten Joint. Du verlierst die Konstanz, die für andere Jugendliche selbstverständlich ist“, sagt Lukas.

Die Jungs spielen auf einem Hartplatz in der Nähe ihres Heims, drei gegen drei. Lukas ist am Ball, er holt aus und drischt ihn mit viel Wucht Richtung Tor. Der rote Staub wirbelt auf. Beim Fußballspielen lässt Lukas seinen Frust raus, nicht nur mit Gewaltschüssen. „Beim Kicken kann ich auch mal richtig laut werden und schreien. Wenn es zu weit geht, sagt die Mannschaft das. Das akzeptiere ich.“ Ein wirklich großer Kicker ist Lukas aber nicht. Wenigstens hat er einen strammen Schuss und eine ebenso stramme Statur. Alles spannt an seinem Körper, er ist kein schlechter Verteidiger. Technisch feiner spielt da schon Ralf. Vom Typ her erinnert er an Mario Götze von Borussia Dortmund, er ist mit Abstand der beste Spieler auf dem Platz.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



Ralf hat es so sogar zum Nationalspieler gebracht. Am kommenden Sonntag wird der 27-Jährige nach Paris zur Fußball-Weltmeisterschaft der Obdachlosen fahren. Er wird im Zentrum von Paris auf dem Marsplatz spielen, unterhalb des Eiffelturms. Davor war er noch nie im Ausland – die Fahrt zum Turnier wird seine erste größere Reise sein.
  Die Weltmeisterschaft der Obdachlosen gibt es seit 2003. Der Chefredakteur der Straßenzeitung Megaphon in Graz, Harald Schmid, hatte die Idee. Er wollte Obdachlosigkeit in den Fokus rücken, aber mit einer positiven Botschaft verknüpfen. Dass sein Plan so gut aufgeht, hat er wohl selbst nicht gedacht. Während das erste Turnier in Graz noch klein war – es kamen 18 Teams aus Europa – wird das Turnier in Paris ein großes Event. 64 Mannschaften werden unter dem Eifelturm spielen, unter anderem aus Kenia und Kasachstan. Die Uefa hat 850 000 Euro zugeschossen, und die großen Clubs des Profisports schicken ihre Scouts, um nach Talenten zu fahnden.

Die Regeln im Obdachlosenfußball sind etwas anders als in der Bundesliga. Eine Halbzeit dauert sieben Minuten. Das Spielfeld ist 22 Meter lang, vier Spieler stehen pro Mannschaft auf dem Platz. Es kommt auf eine gute Technik an, das Spiel ist schnell. Ralf hat das drauf. Deshalb wurde er bei der Deutschen Meisterschaft in Wiesbaden in diesem Jahr für die Nationalmannschaft ausgesucht. Die gibt es seit sechs Jahren, am Ende jedes Turniers wählt ein Trainer die besten Spieler aus und fährt mit ihnen zur Weltmeisterschaft.

Einige haben es schon weit gebracht. Manchester United hat erst im vergangenen Jahr den Portugiesen Tiago Manuel Dias Correia verpflichtet, genannt Bebé. Bis zu seinem Wechsel lebte er wie Ralf und Lukas in einem Wohnheim für Obdachlose. Davor war er jahrelang ohne feste Bleibe in Loures, einem Vorort von Lissabon, unterwegs. Seine Eltern stammen von den Kapverdischen Inseln, als er zehn Jahre alt war, ließen sie ihn allein. Jetzt verdient er ein Monatsgehalt von 65 000 Euro und spielt mit den besten Fußballern der Welt in der Champions League.

Klar, dass Ralf jetzt träumt. Auch er hatte mit seiner Familie wenig Glück. Seine Eltern bekamen 13 Kinder, waren aber mit der Erziehung überfordert. Mit drei Jahren kam er ins Heim. Er wurde aggressiv, schlug um sich. Mit 15 hatte er so viele Vergehen angehäuft, dass er eingesperrt wurde. Aber nicht ins Gefängnis. Der Richter meinte, es sei besser für ihn, wenn er in die Psychiatrie geht. Dort blieb er zwölf Jahre. Erst im Frühjahr, mit 26, kam er raus, seitdem lebt er im Adolf-Mathes-Haus. Ralf ist also nicht wirklich obdachlos, aber er könnte sich auch keine Wohnung mieten. Das würde er nicht hinkriegen, meint er selbst. Vor allem die kleinen Dinge bereiten ihm noch Schwierigkeiten: Geld zusammen zu halten, Behördenkram zu erledigen, auch dann zum Arbeitsdienst zu gehen, wenn er keine Lust hat.

Was ihm dabei immer Kraft gegeben hat, ist Fußball. Doch kürzlich wäre Ralfs Traum von der Weltmeisterschaft fast geplatzt. Er dribbelte am Torwart vorbei, der kam zu spät, zog voll durch und traf ihn mit voller Wucht am Schienbein. Ralf musste vom Spielfeld humpeln. Doch nach ein paar Minuten stand er schon wieder auf dem Platz, mit einer riesigen Beule am Schienbein. „Für mich ist Fußball wie das Leben“, sagt Ralf. „Man verliert einen Ball, man gewinnt wieder einen Ball. Und so ist es ja auch im Leben. Es kommt mal eine gute Zeit, und dann wieder eine schlechte. Aber ich höre nicht auf zu kämpfen.“



Text: fabian-mader - Fotos: juri-gottschall

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