Süddeutsche Zeitung

Unsere Kernprodukte

Im Fokus

Partnerangebote

Möchten Sie in unseren Produkten und Services Anzeigen inserieren oder verwalten?

Anzeige inserieren

Möchten Sie unsere Texte nach­drucken, ver­vielfältigen oder öffent­lich zugänglich machen?

Nutzungsrechte erwerben

Auf Station

Teile diesen Beitrag mit Anderen:

Nikolausabend 2014 im Frankfurter Hauptbahnhof: Noch ist viel los, es riecht nach Kaffee, Bratwurst und Crêpes. Züge fahren ein und aus, Ansagen schallen über die Bahnsteige. Auf dem Weg zu Gleis 1 schaue ich in gestresste oder verwirrte Gesichter, werde angerempelt. Der Bahnhof ist ein Durchgangsort, fast jeder, der hierher kommt, steigt schnell wieder in einen Zug und reist ab. Aber es gibt auch Menschen, die hier stranden. Die keinen Ort haben und darum am Durchgangsort bleiben. Diese Menschen kommen dann zu mir.

Default Bild

„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Peter Christian Krauch, 21, studiert Politik- und Theaterwissenschaften an der Unversität Mainz. Seit zweieinhalb Jahren arbeitet er als angestellter Sozialhelfer im Nachtdienst der Frankfurter Bahnhofsmission.

20.50 Uhr: Mein Dienst als Sozialhelfer im Nachtdienst der Frankfurter Bahnhofsmission, einem Schutzraum für steckengebliebene Reisende und Anlaufstelle für Menschen in Notsituationen, beginnt. Bis 7.20 Uhr am Morgen werde ich hier Tee ausschenken, zuhören, an Notübernachtungen und Ämter weitervermitteln, gegebenenfalls Deutsch, Spanisch, Englisch, und Französisch sprechen, mit der Polizei telefonieren und viel Kaffee trinken, um wach zu bleiben.

Eine Frau weiß nicht mehr, wo sie herkommt. Ich finde heraus, dass sie aus der Psychiatrie ausgebrochen ist

Der Raum der Bahnhofsmission ist in Gelbtönen gestrichen, etwa 20 Menschen finden hier Platz. Im Winter mischt sich manchmal die stickige Heizungsluft mit dem Duft von ungeduschten Körpern und eingetrockneten Rückständen an der Kleidung unserer Gäste. Ich setze mich an meinen Schreibtisch, um in dem schwarzen Übergabebuch nachzulesen, was heute los war und noch ansteht. Ein etwa 30-jähriger Rumäne ist heute Abend hergekommen. Morgen muss er mit einem Sozialamtsticket nach Rumänien fahren, weil sein Asylbegehren in Deutschland nicht genehmigt wurde. Er wird also die ganze Nacht hier an einem der mit Tannenzweigen dekorierten Tische sitzen, bis sein Zug geht. Ich biete ihm, wie allen Übernachtgästen, ein Kissen an.  

22.00 Uhr: Kostenlose Teeausgabe für alle Bedürftigen. Es ist viel los, deshalb komme ich kaum dazu mit meinen Gästen zu reden, obwohl ich das sehr gerne mache. Mit einem Herrn spreche ich regelmäßig über meine Politik-Seminare an der Uni, bringe ihm ab und zu auch mal ein paar Texte mit – das fällt heute aus. Stattdessen bin ich fast eineinhalb Stunden mit einer Frau Mitte 40 beschäftigt, die ohne Papiere und nur mit Jogginghose und Oberteil bekleidet an einem Tisch sitzt und nicht mehr weiß, wo sie herkommt oder wohnt. „Ich will nur schlafen“, mehr kann sie mir nicht sagen. Ihre Haare sind zerzaust, ihr Blick weggetreten. Immerhin kann ich ihren Namen und ihr Geburtsdatum in Erfahrung bringen und verschwinde erst einmal lange ans Telefon. Über verschiedene Stellen finde ich raus, dass sie aus einer geschlossenen Anstalt ausgebrochen ist. Gemeinsam mit der Polizei wecke ich sie behutsam. Ich glaube nicht, dass sie versteht, was gerade mit ihr passiert, zumindest schaut sie genauso leer wie zuvor. Sie wird noch in der gleichen Nacht zwangsweise wieder in die Psychiatrie eingewiesen.  

Die meisten Problemfälle kommen erst ab 2 Uhr - wenn kein Zug mehr fährt und der Mc Donald's schließt

0 Uhr: Ich wünsche den letzten Gästen eine gute Nacht, putze die Tische und reiße die Fenster auf, kalte Luft strömt herein. Aus Selbstschutz ist die Haupttür nun geschlossen, über ein kleines Apothekenfenster kann ich die Leute zunächst kontrollieren, bevor ich sie reinlasse. Aber noch ist es ruhig– die meisten Reisenden und Problemfälle kommen erst ab 2 Uhr, wenn wirklich gar kein Zug mehr fährt und der McDonald’s schließt.

Default Bild

„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert


Was mir im Nachtdienst am meisten zu schaffen macht, ist die Gleichgültigkeit der Familien und der Freunde. Viele unserer Gäste sind alleine. Entweder haben sie keine Angehörigen mehr oder keiner von ihnen nimmt sie auf, wenn sie in Not sind. Ein Mal kam ein älterer und dementer Mann zu uns, der vor dem Hauptbahnhof ausgeraubt worden war. Er wartete auf einen Bus nach Polen, war aber leider eine Nacht zu früh an den Bahnhof gekommen. Bei dem Überfall wurde er leicht verletzt und hatte niemanden mehr, zu dem er gehen konnte. In seinem Geldbeutel hatte er ein Bild seiner verstorbenen Frau. Ich kaufte ihm ein Ticket vom Geld der Mission und setzte ihn in einen Zug nach Hause. Er bat mich, ihn mal zu besuchen, er sei so einsam. Natürlich geht das nicht – wir helfen den Menschen akut und schicken sie dann weiter auf ihre Reise.

In den zweieinhalb Jahren bei der Bahnhofsmission war ich schon Ersatzenkel, Ansprechpartner für zwei geflohene schwule Jugendliche und Beziehungsberater für von ihren Männern herausgeprügelte Frauen. Auch für herausgeworfene Männer.

Besonders hart sind die Begegnungen mit Gleichaltrigen. Einem jungen Mann musste ich neulich einen Rettungswagen rufen, weil er vom Stuhl rutschte und nicht ansprechbar war. Sein Spritzbesteck fiel ihm aus der Hose, ich habe es weggeschmissen. Er kam aus der Nähe meiner Heimatstadt, ich weiß leider nicht, wie es mit ihm weiterging. Von dem Verbleib eines Stammgastes habe ich leider nur aus dem Polizeibericht erfahren: Er hat sich vor eine S-Bahn geworfen.

0.30 Uhr: Es klingelt. Ich öffne das Fenster und ein Mittvierziger steht davor. Mit dabei hat er zwei zum Bersten gefüllte Koffer und eine Plastiktasche voller Flaschen. „Mein Zug ist mir vor der Nase weggefahren, kann ich reinkommen?“ Er hat kein Ticket und in seine Richtung fuhr der letzte Zug bereits vor einer Stunde. Ich will nicht böse sein, es ist kalt, aber wenn jemand kein Zuhause hat, dann braucht er langfristige Hilfe und Betreuung. Wir sind keine Übernachtungsstelle für Obdachlose. Ich gebe ihm noch eine Tasse heißen Tee und erkläre ihm den Weg zur Notüberwachung in der Frankfurter Hauptwache. Das Nein-Sagen ist schwer, aber manchmal angebracht.

Default Bild

„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert


Ich werde oft angelogen, das ist Teil des Jobs. Ich unterstelle keinem der Gäste eine böse Absicht, aber ich muss vorsichtig sein. Neben der Menschenkenntnis verlasse ich mich auf meine Sinne: Rieche ich Alkohol? Zuckt der Mann oder die Frau auffällig, hat also wahrscheinlich Drogen genommen? Wenn jemand behauptet, er sei beklaut worden, hat aber keine Bescheinigung der Polizei dabei und aus seinem Rollstuhl riecht es nach Urin und Kot – dann kann ich nicht so tun, als sei alles normal. Ich vermittle lieber richtige Hilfe; Rettungswagen, Betreuer, Polizei. Grundsätzlich nehme ich es aber keinem übel, wenn er mich anlügt – es sind ja Notlügen.

2.00 Uhr: Zwei Beamte der Bundespolizei bringen mir einen Afghanen, der Asyl beantragen möchte. Ich setze ihn zu einem Pärchen aus Erfurt, dessen Urlaubsrückflug sich verspätet hatte. Viele Reisende landen wegen so etwas bei mir. Ihr Standardsatz: „Ich hätte nie gedacht, dass ich mal in die Bahnhofsmission müsste.“ Die Urlauber essen ihren Proviant, ohne dem Asylbewerber etwas anzubieten und beschweren sich lauthals über die Zustände in ihrem Urlaubshotel. Irgendwann muss ich was sagen: „Könnten Sie bitte etwas leiser sein, der Mann hier versucht zu schlafen und hat auch eine weite Reise hinter sich.“ Das interessiert sie aber nur bedingt.

Als ein vierjähriges Mädchen bei mir abgeholt wird, muss ich weinen. Ich schenke ich noch eine Mütze

Ich habe aufgehört zu zählen, der wievielte Asylbewerber das ist. Es sind einfach zu viele. Als vor zwei Monaten ein vierjähriges Mädchen samt Mutter bei mir abgeholt und in die JVA gebracht wurde, habe ich trotzdem geweint. Ich habe dem Mädchen noch eine pinke Mütze aus unserem Kleiderfundus mitgegeben. Ihren Namen weiß ich nicht mehr. Ich werde wahrscheinlich nie erfahren, wie es für sie weiterging. Irgendwie ist das auch befreiend, sonst trägt man jede Geschichte mit nach Hause.

2.30 Uhr: Das Telefon klingelt, Frau Sioux ist dran. In Wirklichkeit heißt sie anders, aber ich nenne sie so, sie war mal ein Jahr lang Gast bei diesem Indianerstamm, um zu sich selbst zu finden. Frau Sioux ruft seit zwei Jahren öfter an. Ich mag sie sehr, dabei habe ich sie noch nie gesehen. Oft geht es ihr nicht gut, sie kann nicht schlafen. Wir quatschen dann miteinander. Ich habe schon oft für sie gebetet, das habe ich ihr versprochen, damit sie besser schlafen kann. Heute geht es ihr gut, sie war in ihrer Selbsthilfegruppe. Neuerdings gehe ich immer mit dem Telefon vor die Tür und sage: „Frau Sioux, gehen Sie mit mir eine rauchen?“ Dann lacht sie und schmeichelt mir: „Herr Krauch, mit mir ist noch nie ein Mann eine rauchen gegangen.“

Nach dem Telefonat mache ich noch einen Rundgang und genieße die Leere des Bahnhofs, der in zwei Stunden wieder voller Leben sein wird. Man hört nur die herumfahrenden Reinigungsmaschinen und Rangierloks, ansonsten ist es ruhig, nur manchmal unterbrochen von grölenden Menschen, die von einer Party kommen. Morgens gegen 4 Uhr kommt die erste Lautsprecheransage, es ist, wie immer, die S7 nach Riedstadt-Goddelau von Gleis 2.

Als ich an dem geschlossenen McDonald’s vorbeilaufe, fällt mir ein sehr schöner Moment ein. Vor einigen Wochen wurde ich am Bahnhof von einem meiner ehemaligen Gäste angesprochen. Ich hatte ihn seit mehr als einem halben Jahr nicht gesehen. Wir haben früher oft geredet, er trank, hatte seine Frau geschlagen, Kontaktverbot zu seiner Tochter, war obdachlos. „Warum habe ich dich nicht mehr gesehen?“, fragte ich ihn. Er sagte: „Weil ich eine kleine Wohnung habe und trocken bin.“

Default Bild

„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert


7.20 Uhr: Dienstende. Die Kollegen bekommen eine Übergabe, übernehmen die Kasse und entlassen mich in den Tag. Ich laufe durch den überfüllten Hauptbahnhof, sehe noch den ein oder anderen Gast aus der Nacht und quetsche mich in eine S-Bahn. Ich genieße das Auftauchen der S-Bahn aus dem Bahnhofstunnel. Sie steigt aus der Erde und fährt in einem Bogen in Richtung Mainz. Ich blicke auf die im Dunkeln noch blinkende Skyline von Frankfurt, die vielen Lichter des Bahnhofs. Ein toller Anblick – und trotzdem tut es gut, wegzufahren. Zu einem Ort, an dem man dauerhaft bleiben kann, der kein Ort der Durchreise und des Ausharrens ist: nach Hause.


Text: peter-krauch - Bilder: Stanislav Müller

  • teilen
  • schließen