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Am Ende der Durststrecke
Katharina Nocun trägt einen Rucksack auf dem Rücken, er sieht schwer aus. Sie hat darin alles, was sie heute benötigt, ihren Laptop und ihre Haarbürste zum Beispiel. Was darin nicht ist: Wasser. Das bräuchte sie jetzt aber. Dringend.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Piratin am Wasserloch: Katharina Nocun, 26, kämpft dafür, dass die Empörung um die NSA-Debatte die Piraten in den Bundestag trägt.
Die etwa 500 Leute, zu denen sie gleich sprechen wird, sind ihr egal. Ihre Rede, die sie auf zwei DIN A4-Blätter gedruckt hat, kleine Schrift, einfacher Zeilenabstand, bleibt in ihrem Rucksack. Sie will jetzt nicht üben, sich sammeln. Sie interessiert sich auch nicht dafür, ob sie gleich als erste Rednerin auf die Bühne muss oder als zweite. Sie fragt ihre Piratenkollegen, die sich gerade auf dem Münchner Karolinenplatz versammeln, nur eines: wo man einen Schluck Wasser herbekommt. Das ist das Wichtigste jetzt, in der Mittagshitze dieses erdrückend heißen Samstags.
Katharina Nocun ist seit Mai politische Geschäftsführerin der Piratenpartei. Sie ist die Nachfolgerin von Johannes Ponader, der mit seinen Sandalen, seinem Smartphone-Getippe in Talkshows und seinen öffentlich ausgetragenen Streitereien wie kein Zweiter für das Image der seltsamen, streitsüchtigen Chaostruppe stand, das die Partei in den vergangenen Monaten bekam. Allein deshalb reagierten Parteikollegen und Medien auf ihre Wahl mit Begeisterung. Sie sei die Hoffnungsträgerin der Partei, in Titelzeilen tauchten Begriffe wie „Piraten-Prinzessin“ auf. Dabei war das vor dem Tag, der alles veränderte.
Edward Snowden enthüllte wenige Wochen nach Nocuns Wahl, dass Geheimdienste der USA und womöglich auch die der Bundesrepublik E-Mails, Google-Abfragen, Facebook-Einträge und viele andere Datenströme heimlich speichern und mitlesen. Der Skandal steht seither ganz oben auf der politischen Agenda, er dominiert in Deutschland den Wahlkampf und weltweit die Nachrichten. Seit diesem Tag geht es den Piraten wie einem Durstigen, der Wasser gefunden hat. Sie haben ein Thema, das sie positiv besetzen können, endlich. Und es ist genau Katharina Nocuns Thema. Sie ist gerade zur richtigen Zeit am richtigen Ort.
Seit sechs Jahren beschäftigt sie sich vor allem mit dem Kampf gegen Eingriffe in die digitale Privatsphäre. Wenn man 26 Jahre alt ist, sind sechs Jahre eine ziemlich lange Zeit: fast das gesamte Arbeitsleben.
Als Aktivistin im Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung sammelte sie Unterschriften und organisierte Demos. Sie machte Praktika bei mehreren Landesdatenschutzbeauftragten. Als Redakteurin des Online-Magazins netzwelt.de schrieb sie Anleitungen, wie man seine Kommunikation verschlüsselt. Beim „Verbraucherzentrale Bundesverband“ begleitete sie Klagen gegen Internetunternehmen, die gegen deutsche Datenschutzrichtlinien verstoßen. Kurz: Sie kommt daher, wo es jetzt hingehen wird im Wahlkampf, für alle Parteien, aber vor allem für die Netzpartei Piraten, die bei der Bundestagswahl im September über fünf Prozent kommen will, momentan in den Umfragen aber bei etwa zwei Prozent feststeckt.
Datenschutz – mit Katharinas Lieblingsthema sollte sich jeder Internetnutzer auseinandersetzen. Vielleicht tun das viele sogar. Aber der Mehrheit ist es dann doch zu egal, um am eigenen Klick- und Surfverhalten etwas zu ändern, um den Facebook- und den Google-Account zu löschen oder gar politisch aktiv zu werden und an einem Samstag mit mehr als 30 Grad zu demonstrieren. Es sind 500 Menschen gekommen zur Demo auf dem Karolinenplatz. Ginge es nach Katharina Nocun, müssten es 50 000 sein. Ihr Lieblingsthema ist zwar brandaktuell, aber offenbar interessiert es noch viel zu wenige.
Endlich hat sie eine Flasche Wasser ergattert. Sie trinkt und benetzt ihren Nacken. Dann überfliegt sie die Rede doch noch mal kurz, zupft das Kleid zurecht. Sonnenbrille runter, Schweiß von der Stirn, Sonnenbrille rauf. Ab auf die Bühne.
Sie spricht etwa zehn Minuten, sie redet laut und schnell, ist von Anfang an voll da. Aber ihre Stimme zittert, als wäre sie sehr aufgeregt, und das wäre ja auch nicht ungewöhnlich für eine 26-Jährige, die vor Hunderten von Menschen spricht. Aber dazu wirkte sie zu abgeklärt. Ihre Stimme zittert nicht vor Aufregung, sondern vor Wut.
Und ihre Wut springt über. Zum ersten und einzigen Mal an diesem Tag schafft es jemand, die Menge wirklich zu begeistern und mitzureißen. Es gibt viel Applaus, als sie vor dem „schlüsselfertigen Überwachungsstaat“ warnt, der sich gerade im Aufbau befinde, „ohne zu wissen, wer in 20 Jahren die Schlüssel dazu in der Hand hat“. Als sie ruft, dass alle Anwesenden moralisch in der Schuld von Edward Snowden stünden, gibt es „Snowden! Snowden!“-Sprechchöre. „Wollt ihr einen gesetzlichen Whistleblowerschutz?“ ruft sie, noch ein Stück lauter.
In die Partei trat sie notgedrungen ein - weil man sie als Aktivistin nicht ernst nahm
Eigentlich wollte Katharina Nocun gar keine Politikerin werden. Obwohl ihr die Parteiarbeit Spaß macht, würde sie eigentlich lieber in ihrem Job als netzwelt-Redakteurin arbeiten als im Vorstand der Piraten zu sitzen. Sie ist ohnehin erst seit 2012 in der Partei, trat quasi notgedrungen ein, nachdem sie festgestellt hatte, dass man als Aktivist oft nicht ernst genommen wird. „Mir ist klar geworden, dass es nicht nur darum geht, einzelne Themen auf die Agenda zu setzen. Sondern dass wir grundsätzliche strukturelle Defizite in der Demokratie haben.“
Der Schlüsselmoment waren Beratungen der EU-Kommission zum Thema Vorratsdatenspeicherung. Sie waren als ergebnisoffen angekündigt, aber was Katharina Nocun vor Ort erlebte, sah anders aus: „Die Bürgerrechtler waren in der Minderheit, die EU-Kommissarin war die ganze Zeit abwesend und hat unseren Vortrag einfach unterbrochen. Sie hat dann ihre Rede gehalten und gesagt: Vorratsdatenspeicherung bleibt.“ Nocun fühlte sich verhöhnt und benutzt. Eine Woche lang sei es ihr richtig schlecht gegangen, sagt sie. Dieses Gefühl wollte sie nicht noch einmal erleben. Die Politik sollte ihr zuhören. Weil das nicht geschah, wurde sie eben selbst Politikerin. Auf ihren Wahlplakaten, die derzeit überall hängen, steht: „Zuhören statt abhören.“
Das Thema betrifft alle – so lautet eine von Katharina Nocuns zentralen Botschaften. Sie will klar machen, warum der Satz „Ich habe ja nichts zu verbergen“ als Argument nicht gilt: „Früher oder später werden alle betroffen sein. Auch wenn man nicht bei Facebook ist und E-Mails für neumodischen Schnickschnack hält – wir werden in Zukunft in einer digitalen, vernetzten Gesellschaft leben, in der alles, vom Toaster über das Auto bis zum seniorengerechten Fußboden, der Alarm auslöst, wenn ich hinfalle, elektronische Daten produziert.“
Sie kämpft nicht nur gegen die etablierten Parteien und einen Innenminister, der von einem „Supergrundrecht Sicherheit“ spricht, wenn er das Spähprogramm der USA verteidigt, sondern auch dagegen, dass die Konsequenzen von Abhörprogrammen wie Prism oder XKeyscore nicht unmittelbar erfahrbar sind und das Thema Datenschutz deshalb für viele Menschen abstrakt ist.
Ihre Eltern flohen vor dem, was Katharina bekämpft: einem Überwachungsstaat.
Für sie war es das nie, vielleicht fällt es ihr deshalb so schwer zu glauben, dass andere sich für ihr Lieblingsthema nicht begeistern können. Ihre Familie stammt aus Polen. Die Urgroßeltern leisteten Widerstand gegen den Nationalsozialismus, ihre Eltern engagierten sich in der Solidarnosc-Bewegung, wanderten nach Deutschland aus, als sie drei Jahre alt war. Sie flohen vor dem, was Katharina heute bekämpft: einem Staat, der seine Bürger überwacht.
In ihrer Rede sagt Katharina Nocun, sie finde „Technik geil, weil sie unserer Gesellschaft so viele Chancen für Transparenz, Mitbestimmung und ein besseres Leben“ biete. Auch diese Begeisterung hat sie von ihren Eltern. Ihre Vater arbeitet als IT-Projektmanager, ihre Mutter ist Datenbankadministratorin. Sie ist mit Computern aufgewachsen, schon als sie klein war, lernte sie, ihren PC selbst zu reparieren, wenn etwas kaputt war. So erzählt sie das direkt nach der Rede auf dem Bühnenwagen am Karolinenplatz.
Die Demo ist zu Ende, aber Katharinas Wahlkampftag ist es noch nicht. Nachmittags betritt sie die Freiheizhalle in München, ein altes Fabrikgebäude aus Backstein in einem Neubauviertel an den Gleisen. Sie verschwindet erst mal auf der Toilette, um sich frisch zu machen und die vom Wind zerzausten Haare zu kämmen.
Normalerweise finden in der Halle Konzerte statt, heute haben die Piraten sie für eine „Kryptoparty“ gemietet. Solche Veranstaltungen haben nichts mit Feiern zu tun. Hier erklären Piraten interessierten Bürgern, wie sie ihre elektronische Kommunikation so verschlüsseln können, dass niemand mitlesen kann. Eigentlich treten die Piraten zwar an, damit diese Versteckspielchen überflüssig werden. Aber solange das nicht der Fall ist, touren sie eben durchs Land und stellen Dinge wie die „GnuPG-Verschlüsselungsmethode“ vor. Natürlich nicht, ohne darauf hinzuweisen, dass man Politiker abwählen sollte, die den Bürgern nicht garantieren können, dass niemand in ihren Mails schnüffelt.
Katharina Nocun übernimmt heute den Einstiegsvortrag, zusammen mit dem Münchner Bundestagskandidaten Alexander Bock referiert sie über die technischen Hintergründe der Internetkommunikation und warnt vor Gefahren, die dort lauern. Sie zeigt Folien, auf denen Rechner und Smartphones zu sehen sind, Kästen, die Server sein sollen, und rote und blaue Linien für die Wege der Daten durch das Netz. Sie spricht von Knotenpunkten und zeigt, wann der Provider wo welche Daten speichert und wer sie wo abgreifen könnte.
In der Backsteinhalle sieht man eine andere Katharina Nocun als die wütende vom Demo-Wagen. Eine, die auf einem Barhocker vor einem Laptop sitzt, ganz ruhig, das eine Bein über das andere geschlagen. Die Erklär-Katharina.
Aber ist das nicht Zeitverschwendung? Gewinnen die Piraten mit solchen Veranstaltungen wirklich neue Wähler? Unter den etwa 100 Gästen an den Tischen in der Freiheizhalle sind viele, die dem Nerd-Klischee ziemlich nahe kommen, man sieht viel schwarze Kleidung und bleiche Haut. Diese Leute wählen die Piraten wahrscheinlich ohnehin.
Katharina Nocun findet Kryptopartys wichtig. Das sei politische Bildung, man müsse die Hintergründe erklären. „Wir müssen jetzt auf allen Kanälen zeigen, dass wir die Lösungsvorschläge haben, konstruktiv arbeiten können und keine Chaostruppe sind.“ Auch die 500 Teilnehmer bei der Demo wertet sie als Erfolg. Sie vergleicht es mit den Protesten, die vergangenes Jahr das Handelsabkommen Acta verhinderten. „Die waren Anfangs auch sehr klein.“
Katharina Nocun wirkt von ihrem Weg überzeugt. Sie weiß, wie sie die Piraten als Geschäftsführerin durch den Wahlkampf steuern will. Sie muss ihr Lieblingsthema noch mehr in den Mittelpunkt rücken und dafür sorgen, dass sich noch mehr Leute so wie sie darüber empören, dass Geheimdienste jederzeit Einblick in private Daten nehmen können. Ein bisschen Zeit dafür hat sie noch. Es gibt noch viele Demos und Kryptopartys bis zur Bundestagswahl.
Text: christian-helten - Fotos: juri-gottschall