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Trophäe aus Glas

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Benutzt haben wir unseren Krug natürlich fast nie. Schließlich trinkt niemand, der zu Hause die Wahl hat, freiwillig einen Liter auf einmal, weder Bier noch Blasentee. Aber natürlich ging es darum auch gar nicht. Der Krug, den fast jeder meiner Freunde spätestens mit 17 im Regal stehen hatte, besaß eine Funktion, die weit über den schlichten Gebrauch als Trinkgefäß hinaus ging: Er markierte den Beginn von etwas sehr Neuem, sehr Aufregendem. Auf dem Weg ins Erwachsenenleben war der selbst gestohlene Krug ein gläserner Meilenstein mit Henkel.

Das Gute war: Die Phase dauerte nur kurz. Allerspätestens mit 20 war die Zeit vorbei, in der das Maßkrugklauen eine akzeptierte Kulturtechnik unter uns Münchner Jungs war. Ernsthafte Probleme mit der Justiz bekamen wir also nie, zum Glück, denn in diese kurze kleptomanische Phase fielen ja durchaus auch ernstere Tatbestände: Wir trugen im ersten Rausch Straßenschilder und Warnleuchten von Baustellen nach Hause, die besonders Dummdreisten sogar ab und zu einen Mercedesstern. 

Das Stehlen dieser Dinge folgte keinem materiellen Motiv – eher schon einer etwas ungelenken Sehnsucht nach Anarchie in unserer ja immer etwas zu besenreinen Münchner Jugend. Das Diebesgut stellten wir zur Schau wie Jagdtrophäen: Die Kühlerfigur baumelte leger am Rucksack, das Halteverbotsschild war warnend über der Zimmertür verschraubt. Die Gegenstände waren einerseits nicht so verboten, dass wir sie vor unseren Eltern hätten verstecken müssen – andererseits aber doch ausreichend illegal, um unserem alten Kinderzimmer einen Hauch von Punkrock zu verleihen. 

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Viel mehr als nur ein Glas: Für pubertierende Münchner Jungs ist der gestohlene Maßkrug der Mitgliedsausweis der bayerischen Bierkultur.

Der Maßkrug hatte dabei eine besondere Rolle: Anders als die geklauten Schilder, Klappstühle oder orangefarbenen Verkehrshütchen war der Glaskrug politisch völlig geschmacksneutral. Er war gerade kein symbolischer Mittelfinger gegen irgendein Establishment, kein Stück Staat, das wir dem Straßenbild entrissen hatten. Im Gegenteil: Der geklaute Maßkrug war im Grunde sogar die Bejahung des Brauchtums, nämlich der seit Jahrhunderten üblichen Münchner Trinktradition. Es war kein Zufall, dass wir etwa zur selben Zeit auch die Zahl "1328" zu unserem geheimen Code machten, den wir mit Edding auf Schulhefte und E-Gitarren malten – 1328 war schließlich das Gründungsjahr der Augustiner Brauerei. Indem wir also unseren ersten Krug nach Hause trugen, hatten wir uns selbst eine Art Mitgliedsausweis zur bayerischen Bierkultur ausgestellt.

Wo wir sie bekamen, wussten wir ziemlich genau. Es gab ja nur eine Handvoll Biergärten, in denen wir nicht nach dem Ausweis gefragt wurden, wenn wir in kurzen Hosen und mit einer schäumenden Maß im Arm vor das Kassenhäuschen traten, zu späterer Stunde schon leicht schielend. Besonderen Mut erforderte der Krugdiebstahl dort nicht: Es gab keinen Ladendetektiv wie im Drogeriemarkt, nur den drahtigen Mann, der mit dem Leiterwagen von Tisch zu Tisch zog, um leere Krüge einzusammeln. Auf dem Oktoberfest zu klauen war ungleich riskanter, dort stecken nur berauschte Touristen die Glaskrüge ein, die ihnen die Ordner am Ausgang wieder aus den Rucksäcken ziehen. Im Biergarten hingegen ließen manche von uns beim Heimgehen den Krug sogar tollkühn am Daumen baumeln – was dem jeweiligen Krugdieb eine besondere Kaltschnäuzigkeit bescheinigte.

Den Eintritt ins bierfähige Alter zelebrieren natürlich nicht nur wir Münchner. Auch in Münster und Müggelheim dürften Jungs in diesem Alter beginnen, ausländische Bierdosen aus dem Urlaub mitzubringen und auf ihrem Regal zu sammeln. Der Maßkrug aber unterscheidet uns Münchner von allen anderen 15-Jährigen dieser Welt: Ihn gibt es nur in Bayern, ihm wohnt etwas besonders Trophäenhaftes inne. Jedenfalls ist es schwer vorstellbar, dass jemand in Nordrhein-Westfalen mit dem selben Stolz ein gestohlenes 0,2-Liter-Kölschglas auf seinen Nachttisch stellt wie wir unseren wuchtigen Glaszylinder. Wie eine kleine dorische Säule stand er fortan in unserem Zimmer, schlicht, stämmig und auf zweckfreie Art schön. 

Vielleicht tranken wir daraus noch mal eines morgens nach einer Party mit gierigem Durst einen Schwall Leitungswasser – aber früher oder später landete der Krug ganz hinten auf dem obersten Regalbrett in der ersten WG-Küche und sammelte Fettspritzer, diente höchstens noch kurz als Blumenvase, wenn wir mal am Valentinstag eine Freundin hatten. Bis wir ihn dann irgendwann vergaßen oder beim nächsten Umzug wegschmissen. Seinen Zweck hatte er da ja bereits erfüllt: Wir waren jetzt trinkfeste erwachsene Münchner.

Text: jan-stremmel - Foto: Testfight / photocase.com

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