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München leuchtete orange
Der Abend im Atomic Café begann eigentlich immer schon in den Fenstern des Mandarin Oriental. Die Glasfassaden des Hotels waren wichtig, weil wir darin noch mal kurz prüfen konnten, ob das alles seinen Sitz hatte: Der schiefe Haarscheitel, der im besten Fall ein Auge überdeckte. Die enge Jeans auf den Hüftknochen. Die knisternde Polyester-Sportjacke vom Kleidermarkt. Die Gäste, die drinnen im Mandarin saßen, guckten uns bei diesem letzten Verlotterungstest interessiert zu. Sie wussten nicht, dass sie mit ihren Champagnergläsern und dem Pianogeklimper auch irgendwie der letzte Beweis dafür waren, dass wir noch auf der richtigen Seite standen. Die richtige Seite war zwanzig Meter weiter, hinter einer unscheinbaren Tür. Unscheinbar, aber berüchtigt. Schlimm waren dabei aber eigentlich nicht die Türsteher, die waren meistens nett, selbst wenn sie schlechte Nachrichten zu überbringen hatten. Nein, schlimm war, wenn gar niemand an die Tür kam, sie einfach glatt und zu war und wir verloren davor in der Neuturmstraße standen. Die ist an dieser Stelle so eng, dass man schlecht einfach so ein bisschen rumstehen kann. Zaghaftes Klopfen, halbsicheres Kichern, aber mehr Handhabe gab es nicht, wenn die Atomic-Tür nicht aufgehen wollte. „Oh, ist wohl noch zu?“ musste man dann sagen, obwohl alle wussten, dass das nicht stimmte und eben noch eine Runde zum Burger King ins Tal. Danach ein neuer Anlauf und ja, da stand diesmal auch das vertraute Grüppchen der Wartenden, jetzt würde es losgehen, jetzt würde man in einem Rutsch von der Tür bis an die linke Bar durchschwimmen.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Das ging, denn in den Räumen des Atomics herrschten an guten Abenden eigene Strömungsverhältnisse, die uns erst hinauf an die linke Bar branden ließen und von dort wieder mitschwemmten, sobald wir den ersten Gin Tonic (den wir nur hier tranken) in der Hand hatten. Die zweite Runde ging unterm DJ Pult vorbei hinüber zur Säule an der großen Bar. Das dauerte bei günstiger Witterung so etwa eine Stunde. Drüben an der Säule stand immer jemand, den man kannte und sei es nur vom gemeinsamen hier stehen. An diesem Platz sah man alles, sah wer kam, sah wer tanzte und wie der DJ drauf war. Hier oben war auch Gelegenheit, sich gegenseitig zu bekräftigen, dass mal wieder außerordentlich seltsame Leute da seien. An einem normalen Abend im Atomic sagt jeder einmal diesen Satz in irgendein Ohr.
Obwohl der Club nicht groß ist, gab es Orte, an denen wir nie waren. Die Sitzecken, in denen jene auf ihren Jacken saßen, die aus der Provinz extra für diesen Abend gekommen waren, Cliquen, die mit sich selber spielten, oder ganz früh am Morgen diejenigen, die sich mal in aller Ruhe die Schuhe wieder anziehen wollten und dabei einschliefen. Der Kloflur, den immer eine Gruppe zauberhafter Geschöpfe besetzt hielt, Atomic-Gründungsmädchen, messerscharf und gefährlich. Sie waren wie Sirenen mit schwarzer Bobfrisur, ab und zu zogen sie einen Typ von der Tanzfläche zu sich hinein, zum Knutschen. Hinten ganz im Eck bei der linken Bar, das war auch so ein spezieller Platz, da saßen gerne zwei, drei ältere Herren, in der Würde des Nachtlebens ergraut und irgendjemand brachte im Laufe der Nacht das Gerücht auf, einer davon wäre Paul Weller. Aber bis wir mal dort vorbeikamen und nachsehen konnten, das dauerte ja wieder eine Stunde, war die Ecke leer oder es saß nur noch die Dings da, die früher beim Prinz war. Das war beruhigend, denn wir wussten, wir könnten auch in vielen Jahren noch herkommen und dann dort sitzen.
In vielerlei Hinsicht waren und sind die Räume des Atomic ideal, deswegen ist es schade, dass es nächstes Jahr damit vorbei sein soll. Sie hatten den goldenen Club-Schnitt, mit ihren beiden Polen aus Bühne und DJ-Kanzel, flankiert von den Bars. Das funktionierte alles sehr gut. Die Bühne hatte immer genau die richtige Größe, jede Band sah gut aus und das ging soweit, dass man sich Bands gar nicht mehr anderes denken konnte, als vor dem Atomic-Glitzervorhang. Wenn man ausnahmsweise mal woanders Konzerte besuchte, waren die Bands immer viel zu weit weg und oft irgendwie verloren, es war eben nicht wie daheim. Dass die Musiker immer quer durch den Raum mussten oder sich hinterm Tresen vorbeidrückten, verlieh dem Ganzen den Charme von Familienkonzerten. Als würden nur mal eben jemand aus dem Publikum die zwei Schritte auf die Bühne machen und schnell die schönsten Lieder der Welt spielen, um danach mit den anderen weiter zu trinken. Noch wichtiger aber war, dass auch an müden Abenden der Club aus sich selbst heraus glänzte, selbst wenn es leer war, war das Atomic Café nicht leer. Es schrumpfte dann einfach auf Wohnzimmergröße zusammen und hielt seine paar Gäste in einem sicheren, warmen Schoß. Die Details stimmten, ob es die immer gleichen, immer korrekten Bartypen waren, der Notproviant beim Garderobenmädchen oder die Toiletten, in denen man sich für ein paar Minuten verstecken, ausruhen, sammeln konnte und wo es eine Bierflaschenablage über der Pissrinne gab, auf der wir immer unser Bier vergaßen. Die Papiertücher am Waschbecken waren ein guter Zeitmesser. Wenn noch welche da waren, dann war es zu früh. Dann wussten wir, der Abend geht erst los.
Wenn Clubs umziehen ist das in etwa so, wie wenn Mama aus deinem alten Kinderzimmer ein Bügelzimmer macht. Man darf nicht richtig traurig sein, schließlich war man vielleicht schon länger nicht mehr da und es ist ja nicht so, dass Mama tot ist, alle wichtigen Sachen gehen also noch ein bisschen weiter. Aber trotzdem geht damit etwas zu Ende, auf das man immer zählen konnte. Das Vertraute, das ja bei so heiklen Dingen wie Ausgehen besonders wichtig ist. Das leuchtende Ziel in dunkler Nacht. Man hat eben nur ein altes Kinderzimmer und man hat auch nur einen Lieblingsclub. So wie die Münchner Fußgängerzone für immer unser Bild von einer Bilderbuch-Fußgängerzone geprägt hat, werden wir beim Wort Club immer das Atomic in der Neuturmstraße vor uns sehen, getaucht in sein rot-oranges Glitzerlicht, das überall anders oll wäre. Klar, wir gehen noch mal hin, bevor Schluss ist. Wahrscheinlich, wer weiß, vielleicht, wie schaut’s aus – schon nächsten Mittwoch.