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Männer, die auf Wellen starren

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Wir können nicht anders. Wenn es regnet wie in den vergangenen Wochen, tagelang, ohne große Pausen, wenn die Isar ihr kaltes Grün eintauscht gegen ein Braun, das man schlammig nennen kann oder auch cappuccinofarben, dann werden wir nervös. Nicht, weil unsere Keller volllaufen oder Schlimmeres droht, wie derzeit den Menschen in Passau. Nein, der Regen und das Hochwasser, das anderen schlechte Laune macht oder gar ihre Existenz bedroht, erfüllt uns mit Aufregung, Vorfreude und Ungeduld. Wir setzen uns ins Auto oder sogar aufs Fahrrad, trotz des Mistwetters, und machen uns auf den Weg. An die Isar. Brudermühlbrücke. Wittelsbacherbrücke. Reichenbachbrücke. Manchmal auch weiter, Richtung Pullach oder Freising. Wellen checken.  

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert


Wir stehen dann auf den Brücken oder, wo es möglich ist, unten am Fluss, die Kapuzen ins Gesicht gezogen und starren auf den Fluss. Beobachten. Schätzen ein. Neuankömmlingen nickt man zu – „Hallo, wie schaut’s aus, geht da was?“ – es sind ja jedes Mal dieselben, die das Hochwasser ein oder zwei Mal im Jahr anlockt. Und wenn da was geht, dann gehen wir zurück zum Auto, wo Bretter und Neoprenanzüge im Kofferraum warten, in schnellen Schritten, sodass wir fast schon rennen.  

Nur: Seit etwa zwei Jahren ist etwas anders. Es geht nämlich nicht mehr viel. Die Isar wurde renaturiert, 2011 war der letzte Bauabschnitt an der Reichenbachbrücke fertig. Wo das Wasser früher in einem geraden Kanal dahinfloss, gibt es jetzt Inseln, Kiesbänke und Seitenarme. Das sieht hübsch aus, ist natürlicher und auf den Steinstufen an den Brücken sitzt es sich im Sommer ganz hervorragend. Aber die Wellen sind den Umbauten zum Opfer gefallen, weil die Stufen, an denen sie entstehen, abgeflacht wurden oder das Wasser über Seitenarme fließt, anstatt sich im Kanal zu einer Welle aufzutürmen.  

Früher war München für uns Surfer bei Hochwasser der beste Ort der Welt. Steile, hohe Wellen. 30 Meter breite Wasserwände, kraftvolles Weißwasser. Wenn wir uns jetzt ins Auto setzen, wissen wir, dass es höchstwahrscheinlich nichts bringen wird. Und trotzdem machen wir uns auf. Wir fahren unsere Brückentour oder, wenn wir keine Zeit haben, versuchen aus dem Büro auf dem Laufenden zu bleiben: Pegelstände im Internet. SMS an Freunde, die draußen sind.   Die besten Wellen sind weg, aber wir hoffen trotzdem, dass sich in dem veränderten Flussbett neue Möglichkeiten auftun. Wir kennen das: Das Surfen auf der offenen Isar war immer schon etwas komplizierter als am Eisbach. Die Wellen waren eigenwilliger, nicht so zuverlässig und brav wie die neben dem Haus der Kunst. Nicht zu viel Wasser durfte es sein, natürlich auch nicht zu wenig. Man musste den richtigen Zeitpunkt abpassen, hoffen, suchen, jagen. Wer etwas Erfahrung hatte, wusste, wann es sich lohnen würde, das Surfbrett in den Kofferraum zu packen. Seit der Renaturierung waren diese Erfahrungen größtenteils wertlos. Aber vielleicht, wer weiß, gibt es ja auch jetzt noch Wellen, nur eben an anderen Stellen, bei anderen Wasserständen. Deshalb zieht es uns bei Hochwasser immer wieder an den Fluss.  

Aber bislang war da nichts. Keine Auferstehung. Die Stufe unterhalb der Reichenbachbrücke: ein einziger, flacher Strom. Ein trauriger Anblick. Wehmut.   Dabei war die Reichenbachbrücke einst der große, etwas rauere, aber wesentlich coolere große Bruder des Eisbachs. Er war in der Lage, deftige Watschen zu verteilen, aber wenn man sich mit ihm anfreundete und er einen mit auf die Party nahm, war klar, dass man etwas erleben würde. Nicht jeder kam mit ihm zurecht, nicht jeder wagte sich überhaupt erst heran, auch das machte den Reiz aus. Keine Anfänger, keine Langsam-Hin-und-Her-Fahrer, im Gegenteil: An der offenen Isar standen plötzlich auch die Alten wieder, graubärtig zum Teil schon, diejenigen, die das Surfen in München entdeckt hatten. Am Eisbach sieht man sie kaum noch, der interessiert sie wohl nicht mehr. Aber wenn die Isarpegel stiegen, waren sie wieder da. Bei Hochwasser werden Männer zu zappeligen kleinen Jungs.  


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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert


Was selten vorkommt und nicht leicht zu haben ist, gewinnt an Wert. Hochwasser heißt meistens: schlechtes Wetter, Regen, Kälte. Das Wasser ist eiskalt, vom Schmelzwasser aus den Bergen. Es riecht auch nicht immer angenehm, Stichwort übergelaufene Kläranlagen, überflutete Felder. An der Reichenbachbrücke konnte man nicht gemütlich von der Seite aufs Brett springen, surfen und wieder zurücktrotten wie an Floßlände oder Eisbach. Es war ein Kampf: In die Welle paddeln, Weißwasser schlucken, aufstehen. Vorsicht, Treibholz! Hinter der Welle schnell an den Rand paddeln. Raus aus der Gefahrenzone, an die Leiter klammern! Klettern, die Wand rauf, Surfbrett nachziehen, über das Geländer. Zurücklaufen.  

Diese Runde war anstrengend. Noch anstrengender wurde sie, wenn man die Leiter verpasste, weil man es nicht schnell genug an den Rand schaffte. Dann trieb man weiter bis auf Höhe des Patentamts, zur nächsten Ausstiegsmöglichkeit. Viel Kraftaufwand für eine Minute oder noch weniger auf der Welle. Und dennoch surfte man immer bis zur totalen Erschöpfung, höchstens mit kurzer Pause, ein Spezi und eine Semmel vom Reichenbachkiosk vielleicht. Denn schon morgen könnte das Hochwasser fallen, die jetzt perfekte Welle nur noch ein Häufchen Weißwasser sein. Oder umgekehrt: Noch mehr Wasser, dann wird die Isar wilder, reißt flussaufwärts noch mehr Bäume mit, die Strudel werden kräftiger. Manche Wellen funktionieren dann nicht mehr.  

Und ab 2,40 Meter (durchschnittlich liegt der Pegel der Isar bei 89 Zentimetern) ist die Hochwasser-Meldestufe 1 erreicht. Überstieg der Pegel diese Marke, wurde es sowieso problematisch: Nur bis dahin wird das Surfen auf der Isar von der Stadt geduldet (in der Bade- und Bootsverordnung, die derlei Dinge regelt, ist von Surfen noch keine Rede, eine rechtliche Grauzone), bei mehr Wasser ist jeglicher Sport verboten. Das hat seine Gründe und wurde von der Polizei auch durchgesetzt. Erfahrene Surfer fühlten sich dann wie ein Spieler des FC Bayern, dem man sagt, er dürfe in der Champions League nicht mitspielen, weil es da ein bisschen rauer zugeht als in der Bundesliga.  

Doch wir hoffen weiter: Die Schwelle an der Wittelsbacherbrücke muss saniert werden, und es kann sein, dass dabei so gebaut wird, dass wieder eine Welle entsteht. Politiker haben sich dafür schon ausgesprochen, es sind allerdings noch ein paar Hürden zu nehmen, von einer Verträglichkeitsprüfung für Fische über einen Modellversuch bis zu einer Machbarkeitsstudie. 2015 könnte es losgehen.  

Und bis dahin? Bis dahin werden wir weiter die Brücken abklappern, wenn die Isar anschwillt. Und wir werden ausweichen. Seit die Wellen vor der eigenen Haustür nicht mehr funktionieren, haben viele woanders gesucht. Flüsse mit Staustufen gibt es nicht nur auf der Isar, und spätestens seit dem Kinoerfolg der Riversurf-Doku „Keep Surfing“ ist Fluss-Surfen kein Münchner Phänomen mehr. In Plattling, in Salzburg, in Zürich, auf dem Inn in Österreich, auf der Thur in der Schweiz – überall wird mittlerweile gesurft. Und wer sich bei Google Maps gut umsieht und ein geübtes Auge hat, kann weitere Stellen mit Potenzial entdecken. Man hört dieser Tage von Ausflügen in andere Länder, von Suchen, die fast schon wieder aufgegeben wurden, wegen Autopannen auf matschigen Waldwegen, von Wellen, die dann doch noch gefunden wurden, als die Stimmung am Tiefpunkt war, Wellen, die besser sind als die an der Reichenbachbrücke es je war. Wo genau die sind und bei welchen Wasserständen sie zum Leben erwachen, wird ungern verraten, schon gar nicht darf man es in die Zeitung schreiben. Natürlich nicht. Soll sich ja nicht gleich ganz München ins Auto setzen. Denn, klar, genau das würde passieren. Wir würden hinfahren. Wir können ja nicht anders.

Text: christian-helten - Fotos: Björn Richie Lob

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