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Ignoriert, verjagt, beklatscht
Die blaue Stunde ist die Stunde des Blues. Die Farben des Tages weichen dem Grau der Nacht. Ein Moment des Innehaltens. Eine Zeit der Stille. Eigentlich. Aber die Tische vor dem kleinen Lokal in der Nähe des Sendlinger Tors sind voll besetzt. Die Gespräche sind laut, Gläser klirren, das Besteck klappert. Auf einem Hocker, den ihm der Barkeeper in die Hand gedrückt hat, sitzt David Necchi am Rand des Gehsteigs und singt ihn – den Blues. Den grauen Hut weit in den Nacken geschoben stampft er mit löchrigen Schuhen den Rhythmus auf dem Asphalt.
David Necchi ist Straßenmusiker. Hauptberuflich. Es ist der letzte Song des Abends. Ein gewöhnlicher Abend für den Berliner Künstler. Er wurde ignoriert, er wurde verjagt, er wurde beklatscht. Als der letzte Song vorbei ist, zündet David sich eine selbstgedrehte Zigarette an, fährt mit einer Hand durch die plattgedrückten braunen Haare. Mit der anderen hält er den Hut, mit dem er gerade an den Tischen Geld gesammelt hat. Die Münzen klimpern. Leise. Wenige Münzen machen nicht viel Krach.
David reibt sich das Handgelenk. Seit einigen Tagen kämpft er mit einer Sehnenscheidenentzündung, er trägt eine Bandage, um sein Gelenk so gut es geht zu schonen. In der vergangenen Woche konnte der Musiker deshalb überhaupt nicht auftreten. Jetzt muss er: „Noch ein paar Tage ohne Geld und es wäre spannend geworden.“
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
David Necchi
An diesem Abend hat David vor fünf Läden im Glockenbachviertel gespielt. Blues, Folk, Cover-Songs, eigene Lieder. Er ist müde, aber zufrieden. Der Musiker zieht an seiner Zigarette: „Es geht mir nicht um den perfekten Weg, mit dem ich glücklich werde, sondern um den Weg, mit dem ich das volle Spektrum des Lebens erfahre.“ Ein wenig sperrt sich der Satz gegen die Umgebung. Als gehöre er nicht hierher. Zu Davids Lebensweg passt er aber gut.
Seit zehn Jahren lebt der 29-Jährige von der Musik. Er reist, zieht mit seiner Gitarre durch die Bars und spielt. Zwei Wochen lang ist er in München unterwegs. Sein Hauptquartier hat er in Berlin. Dorthin ging David nach dem Abitur. Er hatte beschlossen Musiker zu werden – ohne ein Instrument zu beherrschen. „Ich habe mich stundenlang mit meiner Gitarre eingesperrt. Gespielt, geschrieben, die Wand angeschrien.“ Später studierte er Philosophie. Drei Wochen. Dann schmiss er hin: „Ich hatte das Gefühl, in einer Blase zu sitzen. Ich dachte mir damals, dass ich all diese Bücher auch auf Reisen lesen kann.“
Früher am Abend: David kennt sich inzwischen aus in München. Er war schon öfter hier, findet seinen Weg zielstrebig, kennt die meisten Bars. Weiß, wer ihn spielen lässt und wer nicht. Meistens jedenfalls. Diesmal liegt er falsch: Davids erste Station ist das Faun, ein Wirtshaus mit Terrasse. Er bleibt auf dem Gehsteig stehen, zieht seine Gitarre aus dem Rucksack, rückt den Hut zurecht und beginnt zu singen. Ein wenig erinnert seine brüchige Stimme an den jungen Bob Dylan, die windigen Hausschluchten von New York City, die Hobo-Romantik. Nach wenigen Takten unterbricht ihn die Kellnerin.
Eigentlich sei München eine angenehme Stadt, sagt David. Viele Barbesitzer ließen ihn gerne spielen, hätten aber auch panische Angst vor Polizeibeschwerden von Nachbarn. In München werden Straßenmusiker außerhalb der Fußgängerzone nämlich nur geduldet, wenn sie nicht die Ruhe stören. Um in der Fußgängerzone spielen zu dürfen, müssen Künstler sogar an einem Casting teilnehmen. Albert Dietrich ist Leiter der Stadtinformation und bezeichnet sich selbst als den „Intendanten des größten Konzertsaales der Stadt: der Fußgängerzone“. Eine Jury um Dietrich entscheidet, wer eine Genehmigung bekommt und wer nicht. Zurzeit gibt es etwa 50 bis 60 Straßenmusiker in München. Die Zahl, so der Intendant, habe über die vergangenen Jahre zugenommen. Die Qualität jedoch nicht: „Die meisten Straßenmusiker sind Bettler, keine Künstler.“
David Necchi hält wenig von solchen Vorschriften, Castings und Kategorien: „Betteln ist legitim. Das Recht auf Faulheit sollte festgeschrieben sein.“ David fragt also einfach die Wirte vorher, ob er spielen darf, und die Gäste nachher nach etwas Geld – je nach Abend und Publikum bekommt er zwischen zwei und 30 Euro. Nachdem er vier Jahre lang wohnungslos war, leistet er sich heute davon eine eigene Bleibe in Berlin. Das ständige Unterwegssein habe im privaten Bereich „für Verheerung gesorgt. Keine Tür zu haben, hat mich sehr müde gemacht.“
Für Davids Eltern – beide Akademiker – war die Berufswahl ihres Sohnes eine Katastrophe. Sie sorgten sich, sie stritten, am Ende gaben sie auf. Und warnten seine Brüder: „Der wird in der Gosse enden.“ David aber suchte den Bruch, er wollte fallen. Er packte seine Gitarre und ging los. Als Straßenmusiker reiste David von Portugal aus bis an die syrische Grenze der Türkei.
Inzwischen lehnt er an einer Bank. Vor ihm die gut besuchte Terrasse eines Cafés am Gärtnerplatz. Er spielt einen seiner eigenen Songs, doch schon nach wenigen Takten wendet sich das Publikum wieder Aperol Sprizz, Weißwein und Oliven auf den Tischen zu. Busse dröhnen durch den Kreisverkehr, der Lärm schluckt Davids Stimme. Niemand klatscht, keiner dreht den Kopf. Nach drei Liedern packt David seine Gitarre ein. Die Entscheidung, Straßenmusiker zu werden, hat er nie bereut. Sagt er. Die Sinnfrage taucht trotzdem manchmal auf. „Ich hänge in der Luft, wenn ich gar kein Feedback bekomme. So eine Bar kann ein schwarzes Loch sein.“ David beißt in den Muffin, den ihm die Kellnerin geschenkt hat. Die Sinnfrage also: Warum macht er das?
Auf seinen Reisen durch Europa habe er eine Erfahrung gemacht: Es gibt immer jemanden, der dir weiterhilft. Der dir Essen gibt oder ein Bett für die Nacht. David wollte erleben, im Guten wie im Schlechten. Mit einem Musiker-Zirkus aus New Orleans fuhr er auf dem Fahrrad durch die Türkei, in Florenz übergoss man ihn mit Wasser und bewarf ihn mit Tomaten.
Und in München? Am Gärtnerplatz bahnt sich David, den Hut in der Hand, seinen Weg durch die Sitzreihen. Er verteilt Flyer mit den Links zu seiner Facebook-Seite, zu seiner Musik im Netz. Die Menschen auf der Terrasse des Cafés haben ihm mehr Aufmerksamkeit geschenkt als ihre erste Reaktion vermuten ließ. Ein junger Mann in Tracht und blau-weiß kariertem Hemd klopft ihm auf die Schulter: „Weiter so!“ Eine Gruppe junger Frauen stellt dem Musiker Fragen, lauscht interessiert. „Das Münchner Publikum ist anfangs überrascht und verwirrt“, sagt David. In Berlin seien Barmusiker längst Standard. An einem Abend trifft er dort manchmal fünf Kollegen, die von Bar zu Bar ziehen. Berlin sei schon leicht übersättigt. Die Münchner hingegen seien hungrig, dankbar und interessiert: „Der Berliner stellt dir keine Fragen. Der wird dich erst mal ignorieren.“
Wenig später steht David zwischen zwei parkenden Autos in der Reichenbachstraße. Er hält etwas Abstand zu den Tischen vor dem Trachtenvogl. Es ist still, kein vorbeifahrendes Auto übertönt die Gitarre, und wenn David dann singt, klingt es als würde er ein Gedicht vortragen. Die Menschen auf den Klappstühlen blicken ihn an, einige nicken im Takt. Plötzlich wird ein Fenster aufgerissen, eine Männerstimme hallt durch die Straße: „Stop that noise! Du klingst scheiße!“ Der Musiker hält inne, blickt nach oben. Ein roter Kopf mit langen Haaren hat sich aus dem geöffneten Fenster geschoben: „Wenn du keine Genehmigung hast, dann haust du jetzt ab. Oder ich komme runter.“ David lässt die Gitarre sinken. „Liebe Leute, das war’s dann leider.“
Der Dank für den kurzen Auftritt ist der kräftigste Applaus des Tages. Beinahe alle Gäste klatschen, auf der gegenüberliegenden Straßenseite stimmt ein junger Mann von der Fensterbank aus in den Beifall ein.
Beim Feierabendbier vor der Loretta Bar erklärt David die Situation: „Wenn du Ärger bekommst, solidarisieren sich die Leute mit dir.“ Ignoriert, verjagt, beklatscht. Das volle Spektrum. Der Musiker kramt in seiner Hosentasche nach den Einnahmen. Er rechnet schnell und beiläufig: „Ich zähle nie während des Abends. Freunde von mir sagen, das bringt Unglück.“
In Davids hohler Hand klingeln die Münzen: 30 Euro. Montagabend, WM, Monatsende. Normalerweise ist mehr drin. Besonders in München. Hier fällt David auf, hier verdient er das meiste Geld. „Die Stadt macht es mir leicht, aber gleichzeitig könnte ich mir das Leben in München nicht leisten.“
David steckt die Münzen zurück in seine Tasche, strafft die Bandage am Handgelenk. Ein letzter Zug am Stummel seiner Zigarette. In ein paar Tagen geht es zurück nach Berlin. Zurück in den Alltag eines Alltagslosen.
Text: julian-doerr - Foto: juri-gottschall