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Gute Nachtgeschichte
Wenn zwei sich in München mit "Mausi" begrüßen, kann das alles bedeuten: eine reine Geschäftsbeziehung, Liebe in platonisch und unplatonisch oder auch die Bussi-Bussi-Oberflächlichkeit, die sie in anderen Städten so leidenschaftlich hassen. Oft lässt sich da nur spekulieren. Im Fall von Marco Pichler und Fabio Spagna, die sich zur sehr festen Umarmung in der Lola-Bar gerade laut klatschend auf die Rücken hauen, wären alle Bedeutungen der Floskel ein Fortschritt. Weil alle heißen, dass zumindest der Argwohn weg ist. Und der Hass. In schlechteren Zeiten drohte der eine dem anderen nämlich damit, ihm "eine Bombe in den Laden" zu werfen. Auch "erwürgen" stand zur Debatte. Da gab es nichts zu spekulieren über die Bedeutung.
Es ist der Konflikt, den jede Stadt am unausweichlichsten produziert: Der eine will schlafen, der andere betreibt eine Bar mit Konzession bis 5 Uhr morgens. Der eine lebt dort, wo andere feiern. Der andere lebt davon, dass sie es tun. Irgendwer war bestimmt immer zuerst da.
Es ist kalt an diesem Nachmittag. Der Winter hat den Frühling noch mal zurückgedrängt, über der Ickstattstraße hängt der Himmel tief und grau-suppig. Auch drinnen in der Lola, dem Laden, dem die Bombe gegolten hätte und in dem Fabio und Marco inzwischen an der Bar sitzen, krabbelt die Kälte von unten in die Kleidung. Es ist noch geschlossen. Aber hier wärmen immerhin die Worte: "Ich mag es nicht, wenn Menschen sagen, dass Anwohner, denen es zu laut ist, eben wegziehen sollen – das kann nicht die Lösung sein", sagt Fabio. Der Barbetreiber. Lederjacke, Jeanshemd, eine Frisur, mit der er sofort bei Oasis einsteigen könnte. "Sympathie war immer da. Ich mochte Fabio ja von Anfang an und mir gefiel, was er aus dem Laden gemacht hat", sagt Marco. Der Anwohner, der die Bombe werfen wollte. Der 56-Jährige lebt ein paar Stockwerke höher im Nachbarhaus.
Wer öfter in die Lola geht und dort dann zum Rauchen vor die Tür, auf den hat Marco vielleicht schon mal Wasser aus einer Gießkanne gegossen. Seine Notwehr, wenn die Gespräche draußen zu laut waren. Als Fotograf muss er auch am Wochenende regelmäßig um 7 Uhr aufstehen. Wer sehr oft in die Lola geht, der hat Marco dort in jüngerer Zeit aber vielleicht auch schon als DJ erlebt hat. Mit seinem Zylinder, auf den er eine Barbie-Puppe und batteriebetriebene LED-Lampen montiert hat. Mit seinem Ausgehrock mit den gestickten Ranken und Blumen in verschiedenen Grün- und Türkistönen. Mit der halbnackten Puppe, die neben dem Pult hockt, wenn er auflegt – vor allem Rock aus den späten Sechzigern und Siebzigern. Hin und wieder auch etwas Psychedelic. Hin und wieder auch etwas lauter.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Fabio (l.) und Marco aka "DJ Lolalito"
Die Lösung, die die beiden gefunden haben, oder besser: die sie immer wieder aufs neue gemeinsam suchen, die passt schon sehr gut nach München.
Die Entstehung des Problems wohl auch. Es ist ziemlich genau zwei Jahre her, es ist ziemlich genau 23 Uhr und das Wummern, das in schnellen Wellen in Marco Pichlers Schlafzimmer brandet, geht "wuhw, wuhw, wuhw, wuhw, wuhw". Die Bohnermaschine des Schreiners. Der erste Kontakt. Der erste Stress, noch vor Eröffnung. Vielleicht würde die Geschichte, hätte sie einen besseren Start gehabt, heute anders erzählt. Wirklich wahrscheinlich ist aber auch das nicht.
Auf die Bohnermaschine folgte der Eröffnungsabend. Und der war – nun, nennen wir ihn sehr erfolgreich. Fabio hat lange in einer Münchner Band gesungen, die in besseren Momenten vor ein paar tausend Menschen aufgetreten ist. Danach hat der heute 31-Jährige Partys veranstaltet, mit denen er den Wurzelkeller auf der Praterinsel gefüllt hat, das Maximiliansforum, die Reithalle. Name der Reihe: "Kleiner Mann im Boot". Er kannte es damals eher groß. Und laut. Auch und vor allem im Habitus. Womit er wohl auch den Stress auszublenden versuchte: Er hatte sich verschuldet für seine erste Bar. All-in, würde man beim Pokern sagen. Viel Stress, wenn man seine Existenz plötzlich auf dem Tisch liegen hat, ohne zu wissen, wie gut das eigene Blatt wirklich ist. "Ich war extrem angespannt und gleichzeitig einfach nur happy, dass es endlich losgeht", sagt er heute. Das entlud sich. Dreimal kam die Polizei an diesem Abend. Mindestens einmal davon hatte Marco Pichler sie gerufen.
Hier doch mal kurz Stopp. Weil sich sonst die Klischee-Bilder im Kopf verselbständigen. Feindbilder. Von schnöseligen, gierigen Gastronomen auf der einen Seite, und alten Menschen auf der anderen, die es nicht mehr ertragen, wenn sich in der Stadt etwas bewegt. Von Snobs mit Eigentumswohnungen und Allmachtsfantasien oder von Bionade-Eltern, die über ihren Milchkaffees frühvergreist sind. Bilder, die sicher manchmal stimmen und pauschal immer Blödsinn sind. Barbetreiber sind zunächst nur Existenzgründer, Anwohner vor allem Menschen, die nicht schlafen können. Erst danach sind alle entweder umgänglich und kompromissbereit oder engstirnig und verbittert.
Marco ist ein Mensch, bei dem es sich trotz seiner fast 57 Jahre falsch anfühlt, ihn "Herr Pichler" zu nennen. Auch jetzt, am Nachmittag in der Lola, trägt er sein DJ-Outfit – inklusive der Sonnenbrille mit den winzigen Knopfgläsern, die er immer mal wieder unschlüssig auf und wieder absetzt. Seine schwarzen Lederschuhe haben Absätze, die man in dieser Höhe eher an Damenschuhen sieht. Auch er kann ein lauter Typ sein. Wenn man Marco im liebevollsten Sinne als Freak bezeichnete, wäre er vermutlich der erste, der das glucksend unterschriebe. Die Kehrseite bei ihm ist eine Sensibilität, die weit über dem Durchschnitt liegt. Es gibt Menschen, an denen perlt die Umwelt nicht einfach ab. Der Fotograf ist einer von ihnen. Er hat für sein Alter nur wenige Falten. Die, die da sind, sind aber tief.
Als die Musik in sein Schlafzimmer dröhnt, versucht er die ersten Nächte, sich auf die Herzseite zu legen, in der Hoffnung, er könne seinen Puls, den er dann deutlicher hört, an den Beat angleichen. "Ich dachte, dass ich das mit meiner Musikalität schaffen könnte." Natürlich gibt es in München Grenzwerte für die Lautstärke, die von Bars ausgehen darf. Normen, Durchschnittserhebungen. Aber was bedeuten die schon bei einem, der seinen Herzschlag angleichen will – und es nicht schafft?
Und was bedeuten sie andererseits in einem Viertel, das irgendwann zum Kiez geworden ist? Was sagen sie aus, angesichts einer Ausgehkultur, bei der die Leute ein paar Bars pro Abend besuchen und auf dem Weg lärmen? Und was, bitte, wenn alle zum Rauchen vor die Tür müssen? Früher ging man in seine Stammkneipe und purzelte ein paar Stunden später wieder heraus. Heute geht für einen Gast, je nachdem ob er raucht oder mit einem Raucher flirten will, die Tür gut und gerne achtmal auf. "Der Grundpegel ist nicht das Problem", sagt Marco. "Der ist irgendwann wie der Wind, der durch die Blätter weht." An die Spitzen, wenn die Tür wieder aufgeht, oder wenn draußen jemand lacht, kann man sich nicht gewöhnen.
In den Wochen darauf kommt die Polizei fast jedes Wochenende. Und wie meistens, wenn offizielle Stellen übernehmen, hören die Menschen auf, sich selbst um ihre Angelegenheiten zu kümmern – und direkt miteinander zu reden. Hier startet endgültig eine Spirale aus falschen Signalen. Bei einigen Problemen, vor allem den typischen Anfängerfehlern, reagiert Fabio schnell: Gleich am Tag nach der Eröffnung baut er etwa einen Windfang an die Tür, damit Musik und Gespräche nicht direkt nach draußen platzen, wenn sie aufgeht. Bei anderen Dingen dauert alles sehr viel länger. Die Musik wird irgendwann leiser, auch, weil die Bar so besser funktioniert. Gemütlicher. In der Wohnung direkt über dem Lokal kommt nichts mehr an. Bei Marco im Nachbargebäude schon. Warum das so ist, können auch Akustiker nicht erklären: ein Schacht vielleicht, der unglücklich verläuft. Wenig ist so verwirrend wie die Wege, die sich Schall manchmal sucht. Als er ein letztes Mal in die Lola stürmt, hat der Fotograf jedenfalls acht Wochen lang kaum geschlafen. Es ist auch damals ein Nachmittag: Fabio und Marco stehen sich alleine in der Bar gegenüber. Duell-Szene. Marco brüllt und seine Stimme hallt in dem leeren Raum von den goldfarbenen Wänden zurück: Warum er ihn nicht schlafen lasse?! Dass er ihn erwürgen könne. "Am liebsten würde ich dir eine Bombe den Schacht runterjagen!" Danach reißt die Kommunikation ganz ab.
Dafür kommen die Briefe vom Kreisverwaltungsreferat (KVR). Amtsdeutsch, Paragrafen. Verschickt von Sachbearbeitern, die viel Verständnis und wenig Spielraum haben. Schreiben, deren Formulierungen alles Persönliche herausfiltern. Wenn das Menschliche fehlt, kann nur Argwohn bleiben. "Ich dachte nach dem Wutausbruch, ich hätte es mit einem komplett Irren zu tun, der mich fertig machen will", sagt Fabio. "Er verspricht immer wieder, etwas zu tun, und reagiert dann doch nicht", sagt Marco. Im letzten Brief kündigt das KVR an, dass Fabio seine Konzession verliert, wenn er das Problem nicht in den Griff bekommt. Seine Existenz liegt da immer noch auf dem Tisch. Und sein Blatt wirkt plötzlich sehr, sehr schwach. Weitererhöhen geht nicht.
Also zeigt er, was er auf der Hand hat, als die beiden sich zufällig auf der Straße treffen. Sie wissen nicht, ob sie einander duzen oder siezen sollen. Und Fabio sagt etwas, aus dem man wohl viel lernen kann: "Ich weiß nicht mehr, wo wir stehen, ich weiß nicht, was ich noch machen soll. Aber gibt es irgendeine Möglichkeit, wie wir die Behörden raushalten? Bitte!"
Es gibt sie. Ein Abendessen in Marcos Wohnung. Die beiden spielen sich gegenseitig Musik vor, reden, zeigen sich Urlaubsfotos. Hören, dass tatsächlich Basswellen von unten durchdringen. Ein paar Tage später wird ein Akustiker kommen und messen und die schlimmsten Frequenzen herausziehen. Danach bekommt die Anlage eine Lautstärkenbegrenzung – einen sogenannten Limiter, der die Musik automatisch herunterregelt, wenn sie zu laut wird. Damit ist für niemanden alles gut, aber für beide einiges besser. Das ist viel. Weil es nun mal Konflikte gibt, für die keine Lösung existiert, mit der alle Parteien auf ewig zufrieden sind. Und weil dies einer davon ist.
Bei einem guten Kompromiss, sagt Larry David in einer Folge der sehr klugen amerikanischen Serie "Curb Your Enthusiasm" in recht jüdischem Humor, gehe es darum, dass beide Parteien am Ende gleich unglücklich sind.
Aus den Personen, die sich nur noch über Ämter ausgetauscht haben, werden während des Abendessens aber immerhin wieder Menschen mit der gleichen Leidenschaft für die Beatles, für Bob Dylan, für Pink Floyd und die Gitarrensoli von David Gilmour. Aus Argwohn wird die "Mausi"-Ebene. Schwer zu sagen, wie tief sie tatsächlich geht. Aber ja auch müßig. Fabio ist begeistert von Marcos Musiksammlung, fragt, ob er nicht auflegen will. Man könnte sagen: Mit der Musik fing der Krieg an und mit der Musik wurde er wieder beigelegt. Aber das wäre arg pathetisch.
Und doch: Am Ende des Gesprächs in der Lola erinnern beide sich noch mal an den Eröffnungsabend. Und da kommt es tatsächlich zu diesem Dialog:
Fabio: "Im Rückblick war’s wohl nicht wirklich schlau, so laut im Viertel aufzuschlagen."
Marco: "Blödsinn! Das erste Strafmandat ist in den Werbungskosten mit drinnen. Die Leute müssen ja wissen, dass du da bist! Ich habe übrigens noch mal mehr Musik zusammengesucht. Damit kann ich jetzt locker sechs Stunden auflegen."
Am morgigen Freitag ist er wieder dran. Er nennt sich dann übrigens "DJ Lolalito".
Text: jakob-biazza - Foto: juri-gottschall