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"Die kommende Woche wird ultimativ geil"
„Es ist schrecklich schön. Ich glaube, mir ist meine erste große Liebe über den Weg gelaufen“, liest Gabriele Gerlach vor. Im Publikum, das heute ins Café Lohner und Grobitsch gekommen ist, kichern die ersten. Gabi sitzt auf einem Holzstuhl, der auf einem kleinen Vorsprung vor dem Fenster steht. In der einen Hand hat sie ihr Tagebuch, die andere hält sie immer wieder vor ihren Mund, während sie weiter aus dem Abschnitt über die große Liebe liest: „Sie heißt Stefan, ist 16 Jahre alt. Er ist wahnsinnig nett. Und vernünftig, soweit ich ihn bis jetzt kenne.“ Jetzt lachen schon mehr. „Hübsch ist er gar nicht.“ Bei dieser nüchternen Feststellung müssen alle lachen.
Es ist Diary Slam, eine Art Poetry Slam, nur, dass aus Tagebüchern gelesen wird. Am Schluss wird ein Sieger gewählt. Gabi, beruflich Journalistin, hat ihn zum zweiten Mal mit ihrer Schwester Meike organisiert, die als Gehörlosenlehrerin arbeitet. Daher lesen die beiden außer Konkurrenz.
Im Lohner und Grobitsch ist heute abend jeder Stuhl besetzt. Sogar auf der Treppe stapeln sich die Zuhörer. Einige haben Gabi und Meike nach Hause schicken müssen, weil einfach kein Platz mehr übrig war. Die Gäste, ein Querschnitt aus Student mit Modeblog und Handarbeitslehrerin, trinken Chai Tea oder Helles und essen Salat mit Ziegenkäse oder Gulaschsuppe.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Das Prinzip Diary Slam kannte Meike aus London: „Dort wird das ‚Cringe Night’ genannt, wenn die Leute in Pubs aus ihren Tagebüchern vorlesen.“ Die Idee, selbst Tagebuch-Lesungen zu veranstalten, kam ihr, als sie erfuhr, dass sie auch in Hamburg unter dem Namen Diary Slam stattfinden. Zu den monatlichen Slams im Aalhaus in Hamburg-Altona kommen zum Teil mehr als hundert Leser und Zuhörer.
Beim Münchner Diary Slam sind es diesmal fast 70 Gäste. Trotzdem ist es leise. Das merkt man gut in den kurzen Pausen, wenn die Vorleser nach der nächsten Stelle blättern, und man in dem vollen Café den Kühlschrank summen hört. „In dem Abschnitt, den ich vorlese, bin ich zwölf Jahre alt. Das zur Erklärung. Oder Entschuldigung“, sagt Gabi und macht mit dem nächsten Tagebucheintrag weiter. Es geht immer noch um Stefan: „Warum gönnt mir denn keiner einen Freund?“ Wieder lachen alle. „Es stimmt ja, ich habe bis jetzt zwei Mal immer dann davor gekniffen, mit einem Jungen zu gehen. Und die Marion schaut er viel öfter an und viel lieber. Scheiße!“ Gabi gluckst, sie darf nicht mitlachen. „Alles ist so beschissen und eigentlich müsste ich froh sein, dass kein Krieg ist. Und ich essen kann, so viel ich will.“
Auch Karin Ertl hat bei ihrem Auftritt Mühe, nicht selbst mitzulachen. Mit roten Wangen betritt sie die improvisierte Bühne. Ihr Tagebuch ist ein kariertes DIN-A5-Schulheft mit einem Waschbären auf der Vorderseite. Am oberen Rand kleben angerissene Post-its. „Die kommende Woche wird ultimativ geil“, liest Karin vor. „Am Mittwoch gehen wir in das Asylantenheim.“ Die Zuhörer erfahren, dass sie damals 18 Jahre alt war und mit ihrer Jugendgruppe Asylbewerbern Deutsch beibrachte.
Während Karin liest, hält sie das Heft immer wieder vor ihr Gesicht, trotzdem wirkt es nicht, als würde sie sich dahinter verstecken. Immer, wenn sie mit einer Stelle fertig ist, klebt sie das Post-it von oben an die Seite. Man merkt, dass sie Schauspielerin ist. Sie liest mal schneller, mal langsamer und blickt mit ihren großen Augen ins Leere, wenn ihr früheres Ich dramatisch wird: „Da sind die Nächte so gegen jede Vernunft. Aber wozu auch?“ Karin runzelt die Stirn. „Man darf auf der Welt nicht immer alles so tragisch sehen.“ Jetzt muss sie kichern und stockt kurz beim Lesen, weil sie ihre Handschrift nicht lesen kann. „Vor allem so lange es Spaß macht und niemanden verletzt, ist es noch besser.“
Karin hat mit 14 begonnen, Tagebuch zu schreiben und erst vor ein paar Jahren aufgehört. „Ich war schon immer ein Fan von Romy Schneider. Die hat auch Tagebuch geschrieben, und ich fand das interessant, dass man diese Dokumente nach ihrem Tod hat“, sagt sie. Ihre Tagebücher hat sie deshalb „Magdalena“ getauft, nach Romy Schneiders Mutter. Das Vorlesen ist ihr nicht besonders peinlich. Sie habe sich immer schon gedacht, dass womöglich jemand ihr Tagebuch lesen könnte, etwa die Mutter oder die Schwester. Karin hat über alles geschrieben, was in ihrem Leben passiert ist. Über Mathestunden, ihre Tanzgruppe und dass sie für eine Amerika-Reise und ein Fahrrad spart. „Inzwischen habe ich schon ungefähr tausend Märker auf der Kiste, was mir“, und jetzt muss sie doch lachen, „unglaublich gute Vibrations gibt.“
„Ultimativ geil“, „Vibrations“, bei solchen Formulierungen mögen viele gar nicht glauben, dass sie sich tatsächlich mal so ausgedrückt haben. Sich daran zu erinnern, dass es doch so war, und sich über die Einträge zu amüsieren, das macht auch den Vorlesern selbst unglaublich Spaß. „Das Geheimnis beim Diary Slam ist, dass sich jeder in dem wieder erkennt, was die anderen vorlesen, und darüber lacht. Damals hat man gedacht, man ist allein auf der Welt mit diesen Problemen“, sagt Gabi. Ihr ist es leichter gefallen, Stellen auszusuchen, die weiter zurückliegen, als die, bei denen sie abwägen müsste, ob sie die Namen nennt, weil sie die Personen noch kennt. „Auch zu Intimes aus der Familie würde ich nicht vorlesen. Liebschaften und andere Dramen bieten sich aber natürlich an“, sagt Meike.
Die meisten an diesem Abend vorgelesenen Episoden liegen weit zurück. Sie sind meist irgendwann in der Pubertät verfasst worden und erzählen von der Schülervertretung oder vom Erwischt-werden beim Mon-Chéri-Klauen im Supermarkt. Ab und zu sind auch jüngere Tagebuchauszüge dabei, die vom Sabbatical in England berichten oder die Friseurstatuten und die Aufschrift auf einer Tablettenschachtel zitieren. Doch je näher Episoden sich an der Gegenwart befinden, desto mehr hat man das Gefühl, dass der Text im Nachhinein geglättet wurde. Auch weil manche der Lesenden keine Tagebücher dabei haben, sondern Zettel mit ausgedrucktem Text.
Das wirkt sich auch auf die Abstimmung am Schluss aus. Anders als beim Poetry Slam, wo mit Applaus abgestimmt wird, bekommt jeder einen Zettel, auf den er den Namen seines Favoriten schreibt. Anschließend werden sie zusammengefaltet und eingesammelt. Die Zettel bestimmen Karin als Siegerin – wie schon beim ersten Diary Slam im Juli. Ihr Gewinn: ein Tagebuch.
Hätte der Applaus bestimmt, hätten Gabi und Meike gewonnen. Genau wie Siegerin Karin lesen sie noch eine Zugabe und man merkt: Das Publikum wartet darauf. Viele waren schon beim ersten Mal dabei und scheinen wissen zu wollen, wie es mit den Protagonisten aus ihren Geschichten weitergeht. Meike liest eine Passage aus dem Jahr 1990 vor: „Irgendwie ist unser Kapitalismus doch echt zum Kotzen.“ Wieder lachen alle. „Ich habe heute morgen einen Bericht über Dreharbeiten in Polen gesehen, und sie haben die Regisseure, Schauspieler und Kameramänner alle zu ethischen und sozialen Problemen befragt.“ Sie macht eine kleine Pause. „Und die Leute sind so scheußlich angezogen.“
Der Termin für den nächsten Diary Slam in München wird auf der Website liebes-tagebuch.net veröffentlicht.
Text: kathrin-hollmer - Fotos: Juri Gottschall