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Die einsamen Radl
Hipster fahren Fixie, Pragmatiker Citybike. Studentinnen sitzen kerzengerade auf ihren Hollandrädern, und die Typen von gestern, heute um die 30, schwören auf ihr Mountainbike, wohl wissend, dass sie mit den dicken Reifen in der Stadt nur unnötig fest in die Pedale treten müssen. Das traditionelle Rennrad ist zwar wieder angesagt, aber so wirklich cool ist nur, wer auf dem bequemen Federsattel eines klapprigen Herrenrades durch die Stadt cruist, am besten auf dem von Papa aus den Siebziger Jahren: Das golden schimmernde Peugeot-Rad, mit dem er seinerzeit in den Trambahnschienen hängenblieb, wovon heute noch die Narbe über seinem rechten Auge zeugt. Das Rad, auf dessen Lenker er die Mama damals zum See kutschierte. Das Rad mit den Bremsbelägen, für die man heute kaum noch Ersatz findet. Egal: Hauptsache, das Fahrrad hat schon etwas erlebt.
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Jedes Rad hat seine Geschichte, und jeder Radfahrer eine emotionale Beziehung zu seinem Untersatz. Während der eine seines Pumba nennt, weil es so klobig daherkommt, dekoriert die andere ihren Gepäckträger mit gelben Plastikblümchen. Das Radl ist eben mehr als ein Transportmittel, das uns zu den entlegensten Winkeln am Flaucher führt und von dort aus zu jeder Nachtzeit wieder zurück, vorausgesetzt, der Dynamo zickt nicht wieder rum. Was also bewegt uns dazu, das Rad einfach stehen und einen langsamen Rost-Tod sterben zu lassen? Fast jeder hat ja schon mal ein Fahrrad irgendwo abgestellt, auf Nimmerwiedersehen.
Warum die Stadt Jahr für Jahr hunderte, wenn nicht gar tausende Schlösser knacken muss, um an notorisch überfüllten Radlständern wie am Hauptbahnhof wieder Platz zu schaffen für die Räder, die noch in Betrieb sind – das ist eine Frage, die gar nicht so einfach zu beantworten ist. Mag schon sein, dass einer meint, die Reparatur eines platten Reifens lohne sich nicht mehr. Mag auch sein, dass er zu faul ist, das Rad die paar Kilometer vom Glockenbachviertel nach Hause ins Westend zu schieben. Es soll auch Radler geben, die sich nach einer durchzechten Nacht nicht mehr daran erinnern können, wo sie ihr Rad angekettet haben, und welche, die sich nicht mehr an den Code ihres Zahlenschlosses zu erinnern vermögen. Aber reicht das als Erklärung? Oder hat ein Rad so etwas wie ein Haltbarkeitsdatum? Entwächst man seinem Rad, so wie man als Kind aus einem Pullover herauswächst?
Verwaiste Räder jedenfalls strahlen einen gewissen Charme aus, längst nicht nur, aber vor allem für Nostalgiker. Denn ob sie nun von Efeu überwuchert sind oder nur noch aus einem an einen Baum angeketteten Rahmengerippe bestehen, klar ist: Alle diese Fahrräder haben einen Besitzer und eine Geschichte.
So wie mein altes Moutainbike, das ich mir seinerzeit zur Firmung gewünscht hatte. Vor elf Jahren zog es mit mir nach München, es hat tausende Kilometer hier gemacht, stand unzählige Stunden vor der Staatsbibliothek, war mal am Feringa- und mal am Spitzingsee. Doch irgendwann habe ich es einfach vor meiner alten Wohnung geparkt – und nicht mehr angefasst. Vielleicht, weil mein Arbeitgeber mir die MVG-Karte zahlte. Sicher auch, weil es neue Pedalen brauchte, neue Bremsen, einen neuen Sattel, eine neue Kette. Zwei Jahre lang verwaiste das Rad dort. Vor kurzem bin ich einmal quer durch die Stadt gefahren, um es abzuholen. Das Bike wird nun repariert, es soll weiterleben neben meinem Sport-Rad, und irgendwann vererbe ich es meinen Kindern und erzähle ihnen, wie ich einmal in den Trambahnschienen hängen blieb.
Vielleicht mögen sie die Geschichte, vielleicht wollen sie auch mal mit einem Mountainbike fahren. Das Rad von meinem Vater hingegen existiert nur noch als Foto. Er hat es einfach stehen lassen. Wo und warum, das weiß er nicht mehr.
Text: thierry-backes - Fotos: Thierry Backes