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Die Dorfschönheit
Der Aushängedrink heißt „Ficken“, er kostet einen Euro und dass er zu wenig getrunken wird, liegt am wenigsten an seinem Namen. Es fehlt vor allem an Gästen. Die Olydisco, in der er ausgeschenkt wird, kämpft. Sie hat Geldsorgen. Und wohl auch abseits der Getränkeauswahl ein Imageproblem.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Im Lebenszyklus eines Clubs gibt es ziemlich genau drei Arten von Schwierigkeiten: hausgemachte, von außen herangetragene und solche, die sich dem Zeitgeist verdanken. Die Institution im Olympiadorf leidet unter allen drei. Weil sie ein Relikt ist aus einer Zeit, die schon länger vorbei ist. So ließe sich diese Geschichte jedenfalls erzählen. Aber es gäbe auch eine Alternativversion, die in etwa so geht: Die Olydisco war schon totgesagt und hat jetzt alle Chancen, länger zu leben. Weil sie ein Ort der Gemeinschaft in einer Zeit von Individualisten ist – und darin ein Sinnbild für das gesamte studentische Leben im Olympiadorf.
Das Studentenwohnheim dort ist eine kleine Stadt in der Stadt. In den 1052 Einzimmer-Bungalows und in beinahe noch einmal so vielen Einzimmer-Apartments im Studentenhochhaus wohnen seit gut 40 Jahren mehr als 2000 Studenten. Sie gestalten hier fast alles in kompletter Eigenregie. Der Verein der Studenten im Olympiadorf gilt als die größte studentische Selbstverwaltung Europas. Im Sommer steht hier in jeder Gasse ein Grill, Ameisenstraßen aus Studenten führen durch das Dorf und tragen Fleisch und Bier hin und her. Auf dem Marienplatz genannten Dorfplatz trifft man sich zu Fußballübertragungen oder Open-Air-Kino-Nächten.
Es gibt eine Töpferwerkstatt, einen Fotoclub, eine Dorfzeitung namens Dorfbladl, eine Holz- und eine Metallwerkstatt mit Werkzeugausleihe für die Studenten. Den „Grasauschuss“ genannten Grünanlagenausschuss, der im Frühling Blumenzwiebeln verteilt und Bepflanzungstipps gibt, aber auch Pflanzensitting anbietet, wenn jemand im Urlaub ist. Es gibt die Bierstube mit dem schönen gelben Leuchtschild aus den Siebzigerjahren. Ihre holzvertäfelten Wände strahlen Skihüttengemütlichkeit aus. Es riecht nach Schweiß, Braten und Knödelwasser und in der Ecke steht ein Kicker. Es gibt Musikproberäume und eine Kita.
Und es gibt Probleme. Vor allem mit der Olydisco. Einst stand sie für ausartende Studentenpartys, Weiterfeiern, wenn woanders längst Sperrstunde war, und war Kult. Zuletzt kannte man sie nur noch für den jährlichen Studentenfasching „Olympialust“. 2010 musste sie saniert werden und deshalb für zwei Jahre schließen. Im vergangenen Sommer veröffentlichte der Verein der Studenten im Olympiadorf, der auch die Disco betreibt, eine Pressemitteilung: Vom drohenden Ende des gesamten Vereins war darin die Rede. Man sei pleite, eine horrende Nebenkostennachzahlung für die sanierten Flächen der Bierstube und der Disco sei für den Verein nicht zu stemmen und das Studentenwerk wolle einem partout nicht unter die Arme greifen. Das wären also die Probleme, die von außen kommen.
Vielleicht auch die hausgemachten. Denn es soll sich bei ihnen vor allem um eine Menge Missverständnisse auf beiden Seiten gehandelt haben. Zumindest sagt man das heute offiziell so. Ende September fanden Neuwahlen des Vereinsvorstands statt, und bei Gesprächen mit dem Studentenwerk legte man sich auf eine für alle Seiten machbare Schuldenverteilung und neue Vorauszahlungen fest. Die neuen Verträge sind noch nicht unterschrieben. Aber dass die Olydisco oder gar der ganze Verein vor dem Ende stehe oder die Gemeinschaftsräume des Olympiadorfes in Gefahr seien, davon könne zum jetzigen Zeitpunkt keine Rede mehr sein, erzählt Johanna Hansmann, Leiterin der Abteilung Studentisches Wohnen des Studentenwerks München. Jakob Lenz aus dem Vereinsvorstand ist da schon etwas kritischer: „Na ja, im Moment sind wir safe und hoffen alle das Beste, aber der Winter ist auch umsatzstärker als der Sommer, in dem viele auf Reisen sind. Ob wir es wirklich schaffen, wird sich erst im kommenden Jahr zeigen.“
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Was „schaffen“ bedeutet, kann besser beantworten, wer sich schon länger im Verein engagiert: Domi, 25, Student der Tiermedizin etwa, oder Sebastian, 28, Maschinenbau-Student. Beide sind seit Jahren im Verein aktiv. Auch sie erzählen bei einem Bier in der an diesem Abend geschlossenen Olydisco eine Geschichte, die weniger mit dem bösem Willen des Studentenwerks zu tun hat als mit einem Sinneswandel im Studentenleben: „Was die vom Studentenwerk wollen, ist vor allem ein ordentliches Konzept und verlässliche Vereinsmitglieder“, sagt Domi. Genau damit aber sei es seit einigen Jahren immer schwieriger geworden.
In einer Zeit der Individualisierung, des wirtschaftsgetriebenen Bachelor- und Master-Systems und des Lebenslaufpflichtpunkts „Auslandsaufenthalt“ scheint der Gemeinschaftsgedanke unter Studenten plötzlich nicht mehr richtig zu funktionieren. Auslandssemester sind populärer denn je, die meisten Studenten bleiben längst nicht mehr drei Jahre am Stück in einer Stadt. Kaum ist jemand im Verein eingearbeitet, ist er auch schon wieder weg.
Und viele sind gar nicht erst bereit, sich überhaupt zu engagieren, erzählt Jakob Lenz: „In den Diplomstudiengängen war das noch anders, da haben sich die Leute einfach mal ein Semester frei genommen, um ehrenamtlich den Faschingspartyausschuss zu leiten oder in den Vorstand zu gehen. Im neuen System macht das kaum noch jemand. Keiner will mehr Zeit verlieren und es kann sich vor lauter Pflichtseminaren und der kurzen Studienzeit oft auch keiner mehr leisten.“
Das wären also die Probleme, die sich dem Zeitgeist verdanken. Vor allem die Disco leidet unter diesem Wandel. Ihr gehen die Besucher aus. Die urige Bierstube lieben die Dorfbewohner nach wie vor. Aber zum Feiern fahren sie seit geraumer Zeit lieber in die Stadt. „Ein Feierabendbier trinkt man halt am liebsten um die Ecke“, erklärt Sebi. „Dafür muss man nicht in die Stadt fahren, das schmeckt im Fraunhofer nicht besser als hier. Bei einer Clubnacht ist das anders.“
Die Disco sollte den Dorfbewohnern eine bequeme und günstige Feiermöglichkeit direkt vor der Tür sein, etwas ganz Eigenes, Studenten unter Studenten. Wie die Bierstube eben der Ort für das spontane Feierabendbier im eigenen Dorf ist, sollte die Disco der Ort für den spontanen Tanz im eigenen Dorf sein. Und in den Siebzigern und Achtzigern hat das vor allem auch deshalb funktioniert, weil es da noch ein kleineres Ausgehangebot in der Stadt gab. Und eine Sperrstunde. Schlossen überall anders um drei Uhr nachts die Türen, fuhr man raus in die Olydisco – wo keiner kontrollierte und man bis zum Morgengrauen weiterfeierte.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Diesen Vorteil hat sie längst verloren. Und sie kann auch nicht mit der Urigkeit oder Gemütlichkeit der Bierstube trumpfen. Die Bar des Clubs ist blau beleuchtet, um die Kasse ist ein Spritzschutz aus Plexiglas gebaut. Das Getränkeangebot wird auf Bildschirmen präsentiert. In der nebenan liegenden Lounge steht auf PVC-Boden und hinter Kunstledersofas und Yucca-Palmen eine Bar aus Bambusrohren. Die Wände sind mit einem Olydisco-Schriftzug bemalt, der ästhetisch an SMV-Zimmer einer Schule erinnert. Wer täglich im Netz mit den neuesten Trends aus der ganzen Welt konfrontiert wird, lässt sich eher nicht mehr mit improvisierter Baumarkt-Ästhetik abspeisen. Individualisierung züchtet Ansprüche. Ansprüche passen nicht gut hierher.
Fragt man die wenigen Gäste in der Disco, was sie hertreibt, sagen sie meistens: Zufall. Kannte ich vorher nicht, aber ein Freund von mir wohnt im Olydorf. Ein Mädchen sagt auf die Frage, was sie glaube, warum hier so wenig los sei: „Dieser JUZ-Style, das funktioniert nicht mehr.“
Das stimmt – zur Hälfte. Denn er kann sehr wohl funktionieren. Wenn man sich drauf einlässt. Das Bemerkenswerte ist zum Beispiel, dass immer jemand tanzt. Selbst wenn nur zwanzig Leute in der Disco sind, tanzen mindestens acht von ihnen. Und zwar ausladend. Sie machen Quatsch und lachen, werfen den Kopf in den Nacken und verrenken sich. Weil’s wurscht ist. Weil’s sich wahrscheinlich so anfühlt, als gucke überhaupt keiner zu. Ein Mädchen und ihr Kumpel führen auf der Tanzfläche gerade Choreografien auf, die man „Supermarkt“ nennt, oder „Discokugel“. Pantomimenartige Bewegungen. Eher ironisch. Laura, so heißt das Mädchen, kommt aus Nordengland. Sie wohnt am anderen Ende der Stadt, aber Tom, der Junge, den sie hier besucht, wohnt in einem Bungalow. Sie landen derzeit recht oft in der Olydisco: Denn: „Hier ist so viel Platz zum Tanzen.“ Beim DJ kann man sich übrigens Lieder wünschen.
Nein, Avantgarde ist das nicht. Aber eben lustig. Entspannt. Was sicher auch mit dem kostenlosen Eintritt zu tun hat: Was für ein ungewohntes Gefühl, einfach mal reinspazieren zu können, ohne sich erst an der Tür beweisen zu müssen. Wo sonst Eintrittkassierer und Stempelmenschen sitzen, sind hier Studenten aus dem Disco-Auschuss und schenken einem ein nettes Lächeln und irgendwelches Knabberzeug – Chips, Salzstangen oder Gummibären. Man kann bei ihnen stehen bleiben und quatschen, ohne dass sich jemand wundert. Überhaupt wundert sich hier keiner über ein Gespräch, es dauert sowieso nur fünf Minuten, bis einen irgendwer anspricht. Und damit ist nicht Anbaggern gemeint. Wer Freunde für einen Abend sucht, findet sie hier sofort. Und zwar von überallher. Man hört viel Italienisch und Englisch, in allen Akzenten. Eine schöne Stimmung.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Damit die sich auch finanziell wieder trägt, soll ein neues Konzept den Laden wieder voller machen. Die Öffnungszeiten wurden bereits geändert. Samstags ist jetzt dicht, dafür ist am Mittwoch geöffnet. An diesem Tag verlassen weniger Studenten das Dorf und bleiben potenzielle Olydisco-Besucher. Der Verein zahlt jetzt keine Miete mehr für den ganzen Monat, sondern pachtet die Disco für bestimmte Tage. Nachdem man mit Themenabenden rumexperimentiert hat, etwa Metal-Partys, Hip-Hop-Veranstaltungen oder Electro-Nächten, hat man festgestellt, dass die Musikspezifierung nicht zieht. Sie spricht zu wenige Leute an. Der Verein will wieder zurück zum „Studentending“ – große, lustige Mainstreampartys machen, am besten mit einem Motto, bei dem es ums Verkleiden und Spaßhaben geht. Spaß, gemeint als Abkehr von Eitelkeit, Style-Diktat und andauernder Coolness: Das klingt nach einem echten Standortvorteil der Olydisco.
Und nach etwas, das schmerzlich vermisst würde, müsste der Laden tatsächlich schließen. Oder gar der ganze Verein. Es wäre das Ende einer Ära des Studentenlebens. Und darin sicherlich ein relativ natürlicher Tod. Einer, der dem Zeitgeist folgt. Vielen wäre es vermutlich egal. Und doch würde die Gemeinschaft fehlen. Die Mini-Spielstadt Olympiadorf, die doch genau das Richtige nach dem Auszug bei den Eltern ist: ein erstes Ausprobieren des echten Lebens, mit ziemlich viel Narrenfreiheit und ziemlich viel Sicherheit.
„Der Verein ist wie die Familie des Dorfes, man setzt sich zusammen, überlegt sich etwas, trinkt etwas. Da kann man noch so viele Kontaktängste haben, hier findest du immer jemanden, sofort“, sagt Sebi und trinkt den letzten Schluck seines Biers aus. Kürzlich feierte ein Paar, das sich einst bei der Arbeit in der Bierstube kennengelernt hat, hier ihren 25. Hochzeitstag. „Man findet also nicht einfach nur Freunde.“ Sebi weiß, wovon er spricht. Auch er und seine Freundin haben sich hier kennengelernt und teilen sich mittlerweile einen Pärchenbungalow.
Text: mercedes-lauenstein - Fotos: juri-gottschall