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An einem Sonntag im April
Man sollte sich ja eigentlich eh viel öfter freuen, kein Kind mehr zu sein. Hauptsächlich, weil man alleine wohnen darf und selbst entscheiden, wann man aufsteht, was man isst, wer sich wie lange bei einem zu Hause aufhält und was man sonst so aus seinem Leben macht. In diesem Winter sollte man sich aber besonders freuen, kein Kind mehr zu sein. Kinder nämlich wollen an Weihnachten Schnee. Alle Kinder. Immer. Und in diesem Winter gibt es keinen Schnee. Vielleicht gibt es einfach nie wieder Schnee. Es gibt ja nicht mal Frost oder Glatteis oder abgefrorene Finger auf dem Fahrrad. Einige sagen, München wird in Zukunft das Klima Veronas haben, Nürnberg das von Turin. Kinder fänden das blöd. Ich finde das toll.
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Ich finde die Jahreszeit, die da gerade neu entstanden ist, überhaupt sehr interessant. Es ist ja nicht einfach nur ein warmer Winter, der die Stadt erfasst hat. Es ist ein komplett verwirrter Mutant aus Herbst und Frühling. Es ist so ein Science-Fiction-Winter, ein ganz seltsamer meteorologischer Zustand, der fast schon eine dunkle Endzeit-Szenario-Vorahnung in sich trägt.
Manchmal jedenfalls glaube ich, mich in einem Emmerich-Film zu befinden. In einer Szene, in der kurz mal von den alarmierten, sich schon komplett in Katastrophen-Action befindenden Protagonisten im Pentagon zu den ganz normalen, nichts ahnenden Leuten nach Hause geschnitten wird. Und die wundern sich ganz still und naiv über die Veränderung der Natur: „Huch“, sagt eine Frau in Bogenhausen zu ihrem Mann, „der Feigenbaum auf dem Balkon treibt Blüten.“ Man sieht jemanden frühstücken, in einem dieser sehr lichtdurchlässig renovierten Häuser in Laim vielleicht, bei offenem Fenster und Sonnenschein. Und rein kommt eine dicke, schwarze Fliege und nervt diesen Jemand und sein Käsebrot, und im Hintergrund schmücken Kinder barfuß und im Unterhemd den Weihnachtsbaum. Es ist frisch draußen, aber nicht kalt. Man sieht das an Jungs, die in knielangen Hosen Fußball spielen. Und an Menschen, die auf dem Schwabinger Weihnachtsmarkt Glühwein trinken und dabei Pullover und Turnschuhe tragen. Na, und so weiter.
So kommt mir das vor. Aber es stört mich überhaupt nicht. Ich mag es, dass ich nachts im Frühlingsmantel von Schwabing ins Kino am Stachus spazieren gehen kann, ohne dass mir Nase, Zehen und Finger abfrieren. Im vergangenen Jahr habe ich mir mitten auf einem zwar schneelosen, aber eisigen Winterspaziergang bei minus fünf Grad durch die Altstadt noch in einem hysterischen Ich-erfrier-gleich-Anfall beim Sport Scheck in der Fußgängerzone für 150 Euro warme Skiunterwäsche gekauft und sofort anbehalten. Ich hatte sie seither nie wieder an. Das Zeug lag nur in meinem Schrank rum und hat meine Sammlung hässlicher, platzraubender Winterkleidungsstücke vergrößert.
Es hat mich schon immer geärgert, dass man in unseren Breitengraden so viele verschiedene Klamotten vorhalten muss, weil die Temperaturunterschiede so gewaltig sind. Beziehungsweise: waren! Bin ich froh, dass diese Zeiten vorbei sind. Jetzt brauche ich meine Wollunterwäsche nicht mehr. Vorm Sport Scheck recken die Menschen in diesem Jahr zu Weihnachten ihre Gesichter der Sonne entgegen und ziehen die Übergangsjacke aus, weil sie nicht wie ich vor einem Jahr einen hysterischen Kälte-, sondern einen Hitzeanfall erleiden. Ich finde das toll. Ich liebe es, nicht mehr am Woolrich-Laden vorbeizugehen und mir zu denken: Wäre wohl das einzig vernünftige, sich endlich mal so eine langweilige, aber dafür effiziente Jacke gegen die Kälte zuzulegen. Oder ein Paar von diesen hässlichen gefütterten Stiefeln, die alle gleich aussehen.
Ich verspüre auch nicht mehr die Not, nach Süditalien auszuwandern in den Wintermonaten. Ich kann hier bleiben. Überhaupt gehe ich derzeit gern raus und schaue mir, ohne zu frieren, diese komplett neuartige, herrlich milde und seelenfreundliche Jahreszeit an. Aller Endzeitgefühle zum Trotz. Die Menschen in Lenggries oder so, die vom Skifahrgeschäft leben, die tun mir leid. Aber ich tue mir ganz und gar nicht leid. Und um grauen Schneematsch in den Straßen und abgefrorene Zehen tut es mir erst recht nicht leid.
Text: mercedes-lauenstein - Fotos: juri-gottschall