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Fertig machen
Eine Frau sitzt in einer Kneipe in Cambridge, vor ihr auf dem Tresen ihr Computer und ein Bier. Sogar einen zweiten Bildschirm hat sie mitgebracht. Die Frau, nennen wir sie Emily, schreibt an ihrer Dissertation, noch drei Wochen bis zur Abgabe. Als sie mit der Arbeit begann, war sie 24, heute ist sie 31. Sieben Jahre. Michael Kranz sitzt in einem Schneideraum an der Münchner Filmhochschule und klickt sich durch sein Rohmaterial. Man sieht eine Frau in einem Bordell in Bangladesch, sie bittet Michael um Hilfe für ihren zwölfjährigen Sohn. 2012 hatte Michael die Idee für diesen Film, das Geld dafür kam von der Filmhochschule. Michael hätte also wenige Wochen nach seiner Idee mit den Dreharbeiten beginnen können. Stattdessen verstrichen drei Jahre, ehe er nach Bangladesch flog.
Johannes Müßig schiebt sich die staubige Brille zurück auf die Nasenwurzel, will schnell alles zeigen, den Steinboden unter der Abdeckfolie, den zum Trocknen ausgelegten Stuck, die Fenster hier, die Treppe dort. Aber bitte zügig, er will ja noch was schaffen heute. Johannes ist Unfallchirurg, aber in seiner Freizeit renoviert er auf einem Grundstück in Murnau drei alte Häuser. Johannes’ Oma, seine Eltern, drei Schwestern mit Familien, er und seine Freundin – vier Generationen teilen ein Zuhause, das war die Idee. Als sie das Grundstück kauften, war er 30, heute ist er 36. Nie hätte er gedacht, dass sechs Jahre später das größte der drei Häuser immer noch eine Baustelle ist. Sechs Jahre, in denen er jedes Wochenende, jeden Feierabend auf seiner Baustelle steht.
Ein Haus renovieren, einen Film drehen, promovieren. Drei Langzeitprojekte, drei Menschen, zusammen 16 Lebensjahre. Das Bauprojekt dauert länger als geplant, viel länger. Das Projekt von Regiestudent Michael hat sich mit der Zeit verwandelt, von einem Film- in ein Hilfsprojekt. Und Emily, die Frau aus der Bar in Cambridge, ist nach sieben Jahren mit ihrer Doktorarbeit gescheitert.
Woran liegt es, dass manche Langzeitprojekte gelingen, andere nicht? Warum fangen wir an, die Arbeit an unserer Aufgabe aufzuschieben, obwohl wir es gar nicht wollen? Und warum fällt es uns so schwer, Langzeitprojekte, die uns nur noch quälen, endlich aufzugeben? All das hat mit der Art des Projekts zu tun, mit den Umständen, auch mit dem Zufall. Vor allem aber hat es mit uns selbst zu tun. Vielleicht ist ein Langzeitprojekt der kürzeste Weg, uns selbst besser zu verstehen.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Michael Kranz zweifelte lange an seinem geplanten Film, erst nach drei Jahren wagte er die Reise nach Bangladesch - und fand dort einen neuen Sinn in seinem Projekt.
Michael wollte mit seinem Film zunächst einen Widerspruch verstehen: Vor drei Jahren sah er einen Film über den Alltag Prostituierter in Bangladesch. „Gerade im Dokumentarfilm erfahren wir oft vom Leid anderer“, sagt er. „Wir sind ergriffen, aber unternehmen nichts.“ Er beschloss, das Helfen zum Thema seines nächsten Films zu machen: Er würde sich selbst filmen, wie er versucht, in Bangladesch zu helfen, zumindest dieser einen Prostituierten aus dem Film.
Es heißt: Wer leiden kann, wird es weit bringen.
Michael rückte also den Prozess ins Zentrum seines Vorhabens und machte damit schon mal eine wichtige Sache richtig. Denn: Der Weg ist das Ziel. Was nach einem platten Kalenderspruch klingt, wird nicht selten vernachlässigt und dann zum Problem, sagt der Psychologe Hans-Werner Rückert. Wer es gut mit sich meine, ziehe nicht nur aus dem Ergebnis Befriedigung, sondern aus dem Weg dorthin. Und der darf ruhig steinig sein. „Die Motivationsforschung zeigt“, sagt Rückert, „wenn wir uns Aufgaben stellen, die uns stark fordern, macht uns das Ankämpfen gegen unsere Grenzen glücklich.“„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Michael beim Schnitt seines Langzeitprojekts.
Sich selbst fordern, ja. Das Problem ist, dass viele nicht erkennen, wann die Quälerei destruktiv wird. So ging es Emily, der Doktorandin, die im Frühjahr mit ihrem Computer in der Cambridger Kneipe saß – ihre letzte Abgabefrist ist mittlerweile verstrichen. Sie will ihre Geschichte teilen, aber es fällt ihr schwer, darüber zu sprechen. Ihren Namen, das Thema ihrer Arbeit, auch das Fach, in dem sie promovieren wollte, das alles will sie nicht in der Zeitung lesen. Per Skype lässt sie eine Freundin für sich erzählen. „In Cambridge ist Leiden Kult“, sagt die Freundin. Es herrsche das Narrativ, die Promotion müsse hart sein. Wenn Doktoranden ins Stocken geraten und Kollegen von ihren Problemen erzählen, spielen die das oft herunter: Was erwartest du? Das muss so sein!
Problematisch für diejenigen, die wirklich nicht mehr weiterwissen. Denn es führt dazu, dass sie Warnsignale zu lange ignorieren. Auch Emilys Freunde wurden erst misstrauisch, als sie sich komplett abschottete. Gegen Ende traute sie sich eine Woche lang nicht mehr aus ihrer Wohnung. Aus Angst, sie könnte ihrer Professorin begegnen.
Nicht nur an den Unis herrscht die Vorstellung: Wer ausdauernd ist und leiden kann, wird es weit bringen. Es ist das große Versprechen unserer Gesellschaft. „Diesem protestantischen Arbeitsethos entkommen wir nicht“, sagt der Psychologe Rückert. Paradoxerweise fordert genau dasselbe Gesellschaftssystem, dass wir unsere Bedürfnisse sofort befriedigen. „Wir sollen jedem Impuls folgen“, so Rückert. „Bei Frust sofort losgehen, kaufen, Wachstum generieren.“ Diese entgegengesetzten Appelle reißen nicht nur von außen an uns. Sie wohnen auch uns selbst inne. Und produzieren ein Phänomen, das sowohl Symptom als auch Ursache eines ausufernden Langzeitprojekts sein kann: Prokrastination, das fortwährende Aufschieben von als notwendig erachteten Aufgaben. Das Wort kommt aus dem Lateinischen, es leitet sich ab von „pro“ (= für) und „cras“ (= morgen). „Morgen, morgen, nur nicht heute, sagen alle faulen Leute“ – noch so ein Kalenderspruch. Aber ein schwachsinniger. Prokrastination hat komplexe Ursachen.
Wissenschaftler gehen davon aus, dass sie mit unserer Wahrnehmung von Zeit zu tun hat, insbesondere mit dem Phänomen des „hyperbolic discounting“, der „übermäßigen Abzinsung“. Gemeint ist eine extragroß erscheinende Belohnung. Ein Beispiel: Sollen Menschen zwischen hundert Euro heute oder hundertzehn Euro morgen wählen, entscheidet sich die Mehrzahl für hundert Euro heute. Aber bei der Wahl zwischen hundert Euro in 30 oder hundertzehn Euro in 31 Tagen entscheiden sich die meisten Probanden, einen Tag länger zu warten. Heißt: Je ¬näher die Belohnung, desto irrationaler unser Verhalten.
Den Reiz und die Macht der Belohnung verspüren wir immer nur im Jetzt, nicht für die Zukunft. Den komplizierten Vortrag arbeite ich morgen aus, denken wir; heute lieber erst mal das Leichte, Schnelle: aufräumen, ein Bild aufhängen, Zeitung lesen. Prokrastination ist also das Ergebnis einer inneren Verhandlung, die unser Kurzzeit-Ziele-Ich gewonnen hat. Unser Langzeit-Ziele-Ich (Dissertation, Film, Renovierung) hat es dagegen schwer. Es kämpft gegen den Effekt des „hyperbolic discounting“ – und wir belasten es außerdem mit unseren Vorstellungen vom idealen Arbeiten.
Ängste sind der Terminator jedes Langzeitprojekts.
Das beobachtet auch Psychologe Rückert, der an der Freien Universität in Berlin prokrastinierende Studierende berät. Während der Beratung erzählten sie ihm ganze Kataloge über den perfekten Arbeitstag: um sieben Uhr aufstehen, um acht am Schreibtisch, acht Stunden durcharbeiten, mittags kurz was essen. „Und bei wem läuft das tatsächlich so?“, fragt Rückert und kennt die Antwort schon. Denn wir planen, wie wir gern arbeiten würden; nicht so, wie wir es tatsächlich tun. Warum? „Aus Angst“, sagt Rückert. „Vielleicht habe ich schon mal erlebt, dass mir etwas misslungen ist, weil ich getrödelt habe.“ Weil es unangenehm ist, sich mit negativen Erfahrungen zu konfrontieren, machen wir uns lieber Idealvorstellungen von unserem Projektverlauf – aber wir haben einen inneren Beobachter, der überprüft, ob wir sie umsetzen, und uns danach bewertet. Diese Selbsteinschätzung, sagt Rückert, sei bei den meisten kritisch und von Ängsten getönt. Und Ängste sind der Terminator jedes Langzeitprojekts. Sie schüren Zweifel.Darum hätte auch Michael sein Projekt beinahe aufgegeben, noch bevor er überhaupt nach Bangladesch aufgebrochen war. „Ich zweifelte selbst und die anderen zweifelten auch an mir“, sagt er. „Mein Professor schrieb: ‚Wollen Sie auf einem Schimmel ins Bordell reiten und Ihren Mantel teilen?‘“ Michael verstand es als gut gemeinte Provokation, war aber trotzdem verunsichert: Ist meine Idee tatsächlich nur ein selbstgefälliges Hirngespinst?
Ob ein Langzeitprojekt gelingt, ist also auch eine Frage der Zuversicht. „Ich muss mir ausmalen können, dass mein Projekt aufgehen wird“, sagt Rückert. „Außerdem, dass der Erfolg für mich persönlich bedeutsam ist und binnen der für mich relevanten Zeit eintreten wird.“
Bei Johannes war das der Fall. Dass die Häuser eines Tages so aussehen würden, wie er es sich wünschte, daran zweifelte er trotz aller Verzögerungen nie. Weil es das Zuhause seiner Familie werden würde und Johannes und seine Oma schon bald auf dem Grundstück wohnten, musste er Sinn und Bedeutung seiner Arbeit nie hinterfragen. Und weil er sieht, dass es vorangeht, quält ihn nicht, dass der Umbau länger dauert.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Johannes Müßig renoviert schon seit sechs Jahren drei alte Häuser in Murnau, hat aber noch keine Sekunde an seinem Vorhaben gezweifelt. Sein Ziel ist ihm ganz klar: ein Zuhause für seine Familie schaffen.
Bei Michael kam die Zuversicht zurück, als er endlich in Faridpur, Bangladesch, stand: „Ich kam gar nicht mehr zum Zweifeln, alles war ganz klar.“ Er traf Mitarbeiter einer NGO, sprach mit den Frauen, schaute sich an, wie und wo sie arbeiten. Schnell erkannte er, dass er nicht nur den Frauen helfen müsste, sondern auch deren Kindern. Über Facebook sammelte Michael mehr als zehntausend Euro und finanzierte damit ein Wohnheim. Im Moment sucht er regelmäßige Spender und einen Mitstreiter, mit dem er das Projekt vorantreiben kann.
Emily hatte es viel schwerer, zuversichtlich zu bleiben. Sie arbeitete auf das ferne Ziel „Doktortitel“ hin, dessen Sinn, der Einstieg in die Wissenschaftslaufbahn, längst nicht mehr als sicher gilt. „Viele fangen während der Doktorarbeit an, zu zweifeln, ob eine Laufbahn in der Wissenschaft das Richtige ist“, sagt Emilys Freundin. Weil sie aber zu diesem Zeitpunkt bereits so viele Jahre investiert und keine anderen Qualifikationen, keine Berufserfahrung gesammelt hätten, sei Umschwenken keine Option.
Dieser Druck ließ auch Emily viel zu lange verharren. Man kann sich den Verlauf ihrer Doktorarbeit als Kette unglücklicher Ereignisse und falscher Entscheidungen vorstellen. Ihr Projekt sah eine Feldforschung in Russland vor, aber sie fand nicht richtig Zugang, kämpfte mit der Verständigung, kam mit sehr dünnen Beobachtungen zurück. Nach der Hälfte der Zeit startete Emily ein neues Thema. Neue Forschungsreise, neuer Stress. Schlechte Vorbereitung, Widerstände, kein Plan B, dünne Ergebnisse. Der ganze Prozess wiederholte sich, Emily machte trotzdem weiter. Mit immer größerer Angst und immer weniger Zuversicht. Die Motivationsforschung, sagt Psychologe Rückert, geht davon aus, dass uns eine Tätigkeit dann leicht fällt, wenn sie mindestens zu siebzig Prozent mit guten Gefühlen verbunden ist. Alles andere kostet uns Kraft und Mühe. Dann ist es ratsam, „Hilfsmotoren“ anzuschmeißen.
Das kann zum Beispiel die verhasste, aber eben auch sehr effektive Deadline sein. Neben einem klaren Zeitplan geht es aber vor allem darum, das eigene Vorhaben so umzudeuten, dass es wieder für positive Gefühle sorgt. Zum Beispiel, indem man Zuspruch aus dem sozialen Umfeld einfordert, so lässt sich die Lücke zwischen Anstrengung und Belohnung verringern. Außerdem hilft es, Projekte in Aufgaben zu zerlegen, die binnen kurzer Zeit erledigt werden müssen. Und man sollte die eigenen Wahlmöglichkeiten beschneiden, besser noch beschneiden lassen, von Kommilitonen, Kollegen, Chefs. Denn je mehr Möglichkeiten, desto größer die Furcht, uns falsch zu entscheiden – und dann machen wir vorsichtshalber gar nichts.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
"Womit bloß anfangen? Welchen Weg dann weitergehen?" Wenn wir in einem großen Projekt zu viele Wahlmöglichkeiten haben, kriegen wir Angst, uns falsch zu entscheiden - und machen lieber erst mal gar nichts.
Sich 'voranzuscheitern', das kennen wir nicht.
Aber wer die Zuversicht nicht mehr oder nicht wieder entwickeln kann, sollte sein Projekt besser abbrechen, sagt Hans-Werner Rückert. Warum fällt uns das so schwer? „Versagen und Scheitern“, sagt Rückert, „sind in Deutschland sehr negativ besetzt. Sich ‚voranzuscheitern‘, dieses Konzept kennen wir nicht.“ Zwar sei die Idee vom erfolgreichen Scheitern derzeit en vogue, vor allem bei jungen Start-up-Gründern. Aber gesellschaftliche Werthaltungen änderten sich eben nur langsam, wenn überhaupt. „Das Reden vom Scheitern, das gar nicht so schlimm sei, ist ein modisches Oberflächenphänomen.“ Es wäre viel gewonnen, für den Einzelnen und für uns als Gesellschaft, wenn sich daran etwas änderte. Bis es so weit ist, hilft vielleicht eine zweite, nach innen gerichtete Überlegung, wenn wir uns mit einem Langzeitprojekt quälen: Macht das, was ich glaube, tun zu müssen, wirklich Sinn? Vielleicht sollten wir unsere Langzeitprojekte in zwei Gruppen sortieren: die Projekte, die wir aufschieben und die uns Kraft kosten, weil wir so gestrickt sind, wie wir sind; und jene, bei denen wir das tun, weil wir eigentlich längst nicht mehr dahinterstehen. Die große Kunst besteht darin, zu erkennen, welches Projekt in welche Gruppe fällt.Michael hat sein Projekt umgedeutet und dadurch einen neuen Sinn gefunden: nicht nur vom Helfen erzählen, sondern wirklich helfen. Emily hingegen hat auf dem Weg den Sinn verloren – und aufgegeben. Und Johannes? Als die Bauarbeiten losgingen, liefen alle möglichen Murnauer auf dem Grundstück ein. Jeder wusste etwas Schlaues über Johannes’ Vorhaben zu sagen: Bausubstanz völlig hinüber, ein einziges Geldgrab, ob der Doktor überhaupt das Zeug zum Renovieren habe? „Zusammenschieben!“, befahl ein Bauer, der sich nur noch eine Lösung für die Häuser vorstellen konnte: die Planierraupe. Trotzdem zweifelte Johannes nicht ein Mal am Sinn seines Projekts: ein Zuhause für seine Familie zu schaffen. Neulich kam der kritische Bauer nach Jahren wieder vorbei und stand staunend in der Auffahrt: „Johannes, dass das so schön werden kann, hätt’ ich nie gedacht!“
Text: franziska-vonmalsen - Fotos: Nikolas Hagele