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Frei oder nur schlecht abgesichert? Fünf Selbstständige erzählen
Wer selbstständig ist, hat keine Chef*innen, die Aufgaben oder Arbeitszeiten vorgeben. Doch neben vielen Freiheiten haben Selbstständige auch weniger Sicherheiten als Angestellte und müssen sich etwa selbst um ihre Altersvorsorge kümmern. Die Zahl der Selbstständigen unter 35 ist zwischen 2011 und 2019 um ein knappes Viertel auf 436 000 gesunken. Damit sind nur knapp 3,5 Prozent aller jungen Erwerbstätigen selbstständig, darunter deutlich mehr Männer als Frauen. Und weibliche Selbstständige trifft die Corona-Krise laut einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung besonders hart. Warum entscheiden sich junge Menschen trotz aller Unsicherheiten für die Selbstständigkeit? Wie sieht ihr Alltag aus? Welchen Risiken sind sie ausgesetzt? Wie hat die Pandemie ihre Arbeit verändert? Und wie frei fühlen sie sich in ihrer Arbeit? Das haben wir einen Rapper, eine Steuerberaterin, einen Start-up-Gründer, eine Yogalehrerin und eine Winzerin gefragt.
„Finanziell ist das ein verdammt hartes Game“
Philipp Fischer, 28, war früher Kaufmann, heute ist er Rapper.
Philipp Fischer, 28, war früher Kaufmann im Baustofffachhandel. Mit 26 hat er sich als Rapper selbstständig gemacht. Außerdem ist er selbstständiger Exportmanager bei einer schottischen Gin-Destillerie. Seit Januar arbeitet er für das Rote Kreuz in einem Corona-Testzentrum.
„Geld kommt und geht. Auch wenn du mal fünf Riesen in den Sand gesetzt hast, kannst du die wieder verdienen. Verlorene Zeit dagegen kannst du nicht zurückholen. Ich kenne viele Leute, die normal arbeiten und gut verdienen, aber die haben immer eine Scheißlaune von ihrer Arbeit. So möchte ich nicht leben. Mit meiner Ausbildung könnte ich auch in einem Großraumbüro sitzen und Stoßstangen verkaufen. Ich möchte aber geilen Scheiß mit geilen Leuten machen. Für alles andere ist das Leben zu kurz.
Musik ist meine Leidenschaft, ohne sie kann ich nicht leben. Gerade ist das aber echt schwierig. Ohne Auftritte und Konzerte bleiben die Gagen aus. Finanziell ist das ein verdammt hartes Game. Anfang 2020 hatte ich einen super Run. Ich war Vorgruppe des Rap-Duos ‚M.O.P.‘ aus den USA, wir waren deutschlandweit auf Tour. Dann kam der Lockdown.
Es gibt viele Risiken als Selbstständiger, ich muss jeden Tag für mein Geld kämpfen. Seit dem Brexit ist das Gin-Geschäft komplizierter geworden. Wenn ich die Stelle beim Roten Kreuz nicht hätte, dann würde mein Überleben wirklich schwierig werden. Ich kann aber stolz in den Spiegel schauen und sagen: Meine Lieder sind frei. Ich bin ein unabhängiger Musiker und muss mich nicht an den Zeitgeist halten. Alles, was ich tue, gibt mir ein Gefühl von Freiheit. Wenn man das erfahren hat, will man das nie wieder hergeben.“
„Selbstständige sollten ihre Freizeit wertschätzen“
Saskia Döhler, 29, ist Steuerberaterin.
Saskia Döhler, 29, ist Steuerberaterin und hat Anfang des Jahres zusammen mit einem Kollegen die Kanzlei ihres Vaters übernommen.
„Früher war ich Angestellte in einer Wirtschaftsprüfungsgesellschaft. Man hat ein gutes Einstiegsgehalt, muss aber durchaus auch am Wochenende arbeiten. Das war mit einer der Punkte, wo ich dachte, dass ich lieber selbst bestimme, wie ich arbeite.
In der Selbstständigkeit kann ich alles entscheiden, muss es aber auch. Mein Kollege und ich digitalisieren gerade die Kanzlei. Solche Veränderungen klangen damals in der BWL-Vorlesung ganz einfach. Die Theorie konnte man auswendig lernen und in der Klausur runterschreiben. Wenn man dann auf einmal Mitarbeitergespräche führen muss, stellt einen die Praxis vor ganz neue Herausforderungen.
Ich fühle mich auf jeden Fall frei in meinem Beruf. Es fällt allerdings durchaus auch am Wochenende Arbeit an, wenn Familie und Freunde frei haben. Da muss ich überlegen, ob ich abarbeite, was sich angestaut hat. Das liegt vor allem daran, dass die Kanzlei vor Kurzem umgezogen ist. Ich hoffe, dass sich das mit der Zeit einpendelt und weniger wird. Gerade ist es aber so, dass unter der Woche die Mandanten vor der Tür stehen und das Organisatorische, zum Beispiel die Auftragsplanung, Prozessoptimierung und Mitarbeiterführung, liegenbleibt. Das wirkt sich auf meine Arbeitszeit aus: Ich arbeite gerade zwischen 50 und 60 Stunden in der Woche. Als Selbstständige ist man dazu verleitet, rund um die Uhr zu arbeiten. Es ist daher wichtig, sich Zeit für persönliche Interessen als Ausgleich zur Arbeit einzuräumen. Im Laufe der Zeit kann ich hoffentlich auf eine 40-Stunden-Woche reduzieren. Ich bin mir sicher, dass sich so über die Zeit eine gesunde Work-Life-Balance entwickelt.“
„Meine To-Do-Liste ändert sich jeden Tag“
Robert Edelmann leitet zusammen mit einem Freund einen Onlineshop.
Robert Edelmann, 22, hat Anfang 2020 zusammen mit einem Freund den Onlineshop „Heartlight-Vintage“ für gebrauchte Kleidung gegründet.
„Wir haben im Studium mit dem Projekt angefangen. Das Risiko, sich selbstständig zu machen, war für uns nicht so groß. Wir hatten davor drei Jahre lang in anderen Jobs Geld verdient. In ‚Heartlight‘ haben wir etwa 8000 Euro von unserem Ersparten investiert, das ist keine riesige Investitionssumme. Hätte es nicht geklappt, hätten wir zumindest viele Leute und neue Arbeitsweisen kennengelernt. Mit der Erfahrung hätten wir etwas Anderes im Online-Handel gestartet.
Meine To-Do-Liste ändert sich jeden Tag. Vor allem bewerbe ich die Kleidung auf unseren Social-Media-Kanälen und fotografiere sie davor auch selbst. Das ist bei Einzelstücken viel Arbeit. Ich arbeite 55 Stunden in der Woche. Selbst wenn ich sieben Tage die Woche von morgens bis abends arbeiten würde, würde mir die Arbeit nicht ausgehen. Ich finde nicht, dass ich dadurch meine persönliche Freiheit aufgebe, weil ich mich frei dazu entschieden habe, so viel zu arbeiten. Im November wollten wir eigentlich Urlaub machen, aber daraus wurde nichts, weil einfach zu viel Arbeit anstand. Im April will ich einen Segelkurs machen, den ich fix gebucht habe. Ich würde nie im Leben wegfahren, wenn dieser Termin nicht wäre. Das ist erzwungener Urlaub.
Eine Anstellung wäre nichts für mich. Angestellte arbeiten häufig auch mehr, als sie eigentlich müssten – und das für jemand anderen. Ich will lieber selbst entscheiden, über welche Sachen ich mir Gedanken mache. Als Selbstständiger braucht man dafür mehr Durchhaltevermögen. Wenn wir wenig verkaufen, wissen wir nicht warum. Das ist frustrierend. Das sind Punkte, an denen man aufgeben könnte. Wenn ich einen Schritt zurücktrete, sehe ich aber, was wir bereits erreicht haben. Von den derzeitigen Umsätzen können wir leben, wenn wir sparsam sind. Wir machen auf jeden Fall weiter. Bald wollen wir zwei neue Mitarbeiter*innen einstellen, dann haben wir den Kopf etwas freier.“
„Wenn es gut läuft, ist das ein richtiges Traumleben“
Annalena*, 26, wohnt in Köln und betreibt dort seit Januar 2019 ein Yoga-Studio.
„Ich habe mich sehr spontan selbstständig gemacht: Mir wurden Räume für ein Yoga-Studio angeboten, ich traute mich aber nicht, so viel Geld in die Renovierung zu stecken. Letztlich haben mich meine Eltern überredet. Die sind auch selbstständig und risikofreudiger als ich. In den ersten Monaten war mein Studio fast leer, da habe ich die Entscheidung bereut. Als ich mein Studio bei einer Kölner Fitness-App anmeldete, lief es aber deutlich besser. Inzwischen unterrichten noch drei andere freiberuflich in meinem Studio.
Ich gebe zehn Kurse pro Woche und kümmere mich um den Papierkram, das ist aber nicht viel. Sonst habe ich den ganzen Tag frei. Unangenehm wird es, wenn ich krank bin. Da fällt es mir schwer, abzusagen, und ich gebe trotzdem Unterricht. Urlaub habe ich bisher nur wenig genommen. Da habe ich ein schlechtes Gewissen. Das Studio wäre geschlossen, obwohl die Kunden ihre Flatrate bezahlen.
Corona ist für mich ein großes Problem. In beiden Lockdowns hat das Interesse an Online-Kursen schnell nachgelassen. Finanziell ist es gerade schwer. Ich warte immer noch auf die November- und Dezemberhilfen der Bundesregierung. Aber ich will das Studio nicht aufgeben. Letzten Sommer durfte ich aufmachen, da lief es richtig gut. Warum sollte das dieses Jahr nicht wieder passieren? Das Yoga-Studio macht nicht viel Arbeit und ich verdiene gutes Geld. Dadurch bin ich super frei und kann es mir leisten, drei Tage Wochenende zu haben. Wenn es gut läuft, ist das ein richtiges Traumleben.“
*Name geändert
„Ich mache alles außer Traktorfahren“
Mara Walz ist Winzerin.
Mara Walz, 29, lebt in der Nähe von Stuttgart und ist seit Juli 2020 Mitinhaberin des Weinguts ihrer Eltern.
„Ich habe erst Betriebswirtschaft studiert und mich dann für den Weinbau entschieden, weil ich praktisch arbeiten und den Herstellungsprozess meines Produkts von Anfang an kennen möchte. Ich habe frei entschieden, dass ich einmal das Weingut meiner Familie übernehmen möchte. Meine Eltern hätten auch einen anderen Berufswunsch akzeptiert. Auf dem Weingut mache ich alles außer Traktorfahren. Wir bauen selber an, produzieren und verkaufen den Wein. Dadurch sind wir auch komplett von unserer eigenen Ernte abhängig. Vergangenes Jahr hatten wir im Mai enorme Frostschäden und konnten nur halb so viel ernten wie üblich. Davon sollte man sich nicht stressen lassen, man kann es ja nicht ändern. Weingüter verkaufen Rotwein und Premiumweine mindestens ein Jahr nach der Traubenernte. Ernteeinbrüche machen sich also zeitversetzt bemerkbar und lassen sich mit Erspartem oder Wein aus den Vorjahren überbrücken.
Zu dem Risiko, dass eine Ernte schlecht ausfällt, kommt, dass wir abhängig von politischen Entscheidungen sind: 2021 hat das Bundesumweltministerium ein Insektenschutzgesetz vorgeschlagen. Wir hätten keinen Pflanzenschutz mehr betreiben dürfen, da unser Weingut in einem Schutzgebiet liegt. Wenn das so gekommen wäre, hätten wir schließen müssen.
Durch die Corona-Pandemie mussten wir das Weingut für Veranstaltungen schließen. Uns fehlen die Einnahmen aus Weinproben und Feierabend-Events. Wir kommen aber mit einem blauen Auge davon, das Geschäft mit Privatkunden läuft besser als früher. Wir arbeiten jetzt schon an dem Wein, den wir in zwei Jahren verkaufen, und haben deshalb genug zu tun. Wie viel ich genau arbeite, kann ich nicht sagen. Es sind sicher mehr als 50 Stunden in der Woche. Ich mache auch weniger Urlaub als Angestellte. Meine gesamte Familie ist aber selbstständig, da fragt niemand, warum ich abends nach 18 Uhr noch arbeite.
Ich fühle mich frei in meinem Beruf, auch weil wir ein kleines Weingut sind. Wenn man mal früher Feierabend machen will, bespricht man das mit der Familie und dann geht das in Ordnung. Die Arbeit macht mir Spaß, weil sie mich erfüllt – ich mag einfach schöne Trauben. Im Sommer arbeite ich abends auch freiwillig und entferne Blätter, um die Qualität der Trauben zu verbessern.“