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Inklusion: Menschen mit Behinderung während der Corona-Pandemie
„Wir bewältigen jetzt das Abenteuer Corona“: Nach diesem Motto haben Leonard Grobiens Freund*innen am Anfang der Pandemie für ihn eingekauft. Der 23-jährige Kölner hat die Glasknochenkrankheit, eine Corona-Infektion könnte für ihn tödlich verlaufen, erzählt er im Zoom-Gespräch. Man merkt, dass der Student schon länger Homeoffice macht, er hat zwei Bildschirme und vor ihm steht ein professionelles Tischmikrofon. Seit Beginn der Pandemie hat er seine persönliche Freiheit sehr eingeschränkt, nutzt die öffentlichen Verkehrsmittel nicht mehr und geht auch nicht mehr selbst einkaufen. Mittlerweile nutzt Leonard den Lieferservice eines Supermarkts. „Man bekommt dabei ein bisschen das Gefühl von einem Einkauf“, sagt er. Der Lieferservice bedeute Selbstständigkeit und die wiederum bedeute Freiheit.
„Ein selbstbestimmtes Leben bei voller und gleichberechtigter Teilhabe war im vergangenen Jahr für Menschen mit Behinderung stark eingeschränkt, Fortschritte der UN-Behindertenrechtskonvention wurden so zunichte gemacht. Wir müssen sehr aufpassen, dass diese Rückschritte wieder komplett zurückgenommen werden“, sagt auch die Ethik-Professorin Sigrid Graumann von der Evangelischen Fachhochschule Rheinland-Westfalen-Lippe in Bochum. Inklusion sei durch die Pandemie stark behindert worden.
Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes leben rund 7,9 Millionen schwer behinderte Menschen in Deutschland, knapp 255 000 von ihnen sind unter 35 Jahre alt. Der Deutsche Behindertenrat berichtet , dass sie besonders von den Corona-Maßnahmen und ihren Auswirkungen betroffen seien. So könnten viele von ihnen nicht zur Arbeit gehen oder keinen Besuch empfangen. Einsamkeit und Isolation, worunter derzeit viele Menschen leiden, treffen Menschen mit Behinderung besonders stark. Bereits vor der Pandemie hat sich mehr als jeder dritte Mensch in Deutschland mit Beeinträchtigung oder Schwerbehinderung einsam gefühlt, bei Menschen ohne Beeinträchtung waren es dagegen nur rund 15 Prozent. Das ergab der Paritätische Teilhabebericht 2020 des Paritätischen Gesamtverbandes.
Aktuell häufen sich zudem Berichte von Inklusionsbetrieben, die in finanzieller Notlage sind. Menschen können nicht zur Arbeit gehen oder sind seit Monaten im Homeoffice. Und auch der Parasport ist betroffen: Der Deutsche Behindertensportverband meldet, dass der Behindertensport überproportional leide und prognostiziert einen hohen Mitgliederverlust von bis zu 15 Prozent in den Landesverbänden und Vereinen. Und über all dem schwebt immer auch noch die Angst vor einer Ansteckung.
Ein langer Weg bis zur Impfung
Die 19-jährige Jessica Weigelt kennt diese Angst, sie erzählt davon am Telefon. Sie hat eine seltene Erkrankung ihres Nervensystems, eine Infektion mit dem Corona-Virus könnte für sie schwer verlaufen. Deshalb verzichtet sie auf ihre persönliche Freiheit, und auch auf Bildung. Das vergangene Jahr war für sie geprägt von Arztterminen, Therapien und Krankenhausaufenthalten, viel mehr konnte Jessica nicht machen. Einkaufen geht ihre Mutter, Freund*innen hat die Schülerin schon lange nicht mehr offline getroffen. Und wenn, dann nur mit Abstand und Maske. Vor einigen Wochen hat Jessica schließlich entschieden, dass sie ihr Abitur um ein Jahr verschiebt. „Anfangs habe ich versucht, von zu Hause zu lernen, teilweise haben mir die Lehrer Materialien geschickt. Als alle Distanzunterricht hatten und nicht nur ich, war das einfacher“, erzählt sie. Ein Schulbesuch war ab dem frühen Herbst für sie gar nicht mehr möglich, da die Infektionszahlen stiegen und sich Mitschüler*innen nicht an Hygieneregeln hielten. Ein Klassengespräch blieb erfolglos. Zudem hatte Jessica im vergangenen Jahr einen längeren Krankenhausaufenthalt.
Leonard, der in Köln an der internationalen Filmschule studiert, sagt, dass seine Freund*innen sehr verantwortungsvoll mit der Situation umgehen und umgegangen sind: „Es hat mir natürlich geholfen, dass ich nicht immer herausgefordert wurde, Nein zu sagen, wenn sie mich gefragt hätten, etwas zu unternehmen.“ Immerhin war Leonards Sommer gut: Er konnte andere Städte besuchen, arbeiten, Urlaub machen. Ein gewisses Gefühl von Freiheit und Normalität. Das erhoffe er sich auch für den nächsten Sommer, sagt er heute, „multipliziert mit der Impfung“. Die Zeit ab Herbst sei für ihn wieder mit starken Einschränkungen verbunden gewesen. Einschränkungen, die wir zwar alle kennen, die aber noch belastender werden, wenn selbst der Einkauf ein zu hohes Risiko darstellt.
Als Ende 2020 die Impfkampagne begann, war das ein Lichtblick für viele Menschen – für diejenigen mit einem hohen Risiko für eine schweren Verlauf von Covid-19 wie Jessica und Leonard aber besonders. Doch dann mussten sie trotz ihres persönlichen Risikos mehr als zwei Monate lang warten, bis sie an der Reihe waren. Erst im März wurden sie geimpft, die zweite Dosis erhalten sie im Mai.
Problem Priorisierung
Einer, der sich von diesem System vergessen fühlte, ist Christian Homburg. Der 25-Jährige hat deshalb Anfang Januar die Petition „Impfschutz auch für Schwerbehinderte Menschen außerhalb von Pflegeeinrichtungen“ gestartet, mittlerweile haben mehr als 100 000 Menschen unterschrieben. Damit hat der Warendorfer, der eine seltene Form von Muskelschwund hat, Öffentlichkeit für das Thema geschaffen. „Es wird immer sehr gerne von Inklusion gesprochen, aber in den Köpfen der führenden Politiker scheint nicht drin zu sein, dass schwerbehinderte Menschen ganz normal in ihren eigenen Wohnungen inmitten der Gesellschaft leben“, sagt Christian im Zoom-Gespräch. Er glaubt, dass die Petition Aufmerksamkeit für das Thema geschaffen und dazu beigetragen hat, Einzelfallanträge für Impfungen möglich zu machen.
In Nordrhein-Westfalen wurde Christians Erkrankungsgruppe mittlerweile sogar in Impfgruppe zwei aufgenommen. Somit muss er keine Einzelfallanträge mehr stellen – ein großer Bürokratieabbau für alle Betroffenen. Zunächst wurden in der ersten Priorisierungs-Gruppe nämlich nur Menschen geimpft, die in Pflegeeinrichtungen leben, egal, ob mit Behinderung oder ohne, oder Bewohner*innen von Heimen für Menschen mit Behinderung. Menschen mit einer Behinderung, die eine schwere Erkrankung an Covid-19 begünstigt, die in einer eigenen Wohnung leben, wurden zunächst noch nicht priorisiert geimpft.
Sigrid Graumann zufolge habe sich der Ethikrat gemeinsam mit anderen Institutionen im Positionspapier für die Verteilung eines Corona-Impfstoffes für diese Einstufung entschieden, weil in Pflegeheimen zum einen das allgemeine, zum anderen das individuelle Infektionsrisiko sehr hoch sei. Diese beiden Faktoren müssten zusammenkommen, um in Impfgruppe eins geimpft zu werden, denn dann bestehe ein sehr hohes Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf mit potentiell tödlichem Ausgang und ein sehr hohes Infektionsrisiko. Dazu komme noch der Aspekt, das Gesundheitssystem zu entlasten, indem man die Hochrisikopatient*innen, die gleichzeitig ein hohes Ansteckungsrisiko haben, zuerst impfe.
Doch nicht jede Art von Behinderung kann in die Impfpriosierung aufgenommen werden. Denn bei einigen kann man nicht pauschal sagen, dass die Betroffenen ein erhöhtes Risiko haben, schwer an Covid-19 zu erkranken. In diesen Fällen braucht es eine Empfehlung des behandelnden Arztes oder der behandelnden Ärztin und die betroffene Person muss einen Einzelfallantrag stellen. Christian stellte einen solchen schon, bevor seine Erkrankung in Gruppe zwei aufgenommen wurde und war die erste Person in seinem Landkreis, deren Antrag bearbeitet wurde. Ende Februar wurde er dann geimpft.
Auch Jessica und Leonard haben Einzelfallanträge gestellt. Aber Leonard weist darauf hin, dass auch diese Möglichkeit nicht alle haben. „Wenn jemand nicht in der Lage ist, sich selbst zu kümmern, passiert nichts“, sagt er. Im schlimmsten Fall könne die betroffene Person sterben. Petitionsgründer Christian teilt diese Kritik: Nicht jeder habe die kognitiven Fähigkeiten, sich um einen Antrag zu kümmern. Seine Idee: Menschen der Pflegegrade vier und fünf anhand von Kassendaten ausfindig machen und gezielt anschreiben – in Nordrhein-Westfalen werde das teilweise schon so gemacht.
Es fehlen konkrete Impfangebote
Auch Sigrid Graumann sieht hier ein strukturelles Problem: „Menschen, die zum Beispiel in einer betreuten WG leben oder in einer Behindertenwerkstatt arbeiten, kann man über den Träger der Einrichtung erreichen und ein Impfangebot machen. Menschen, die selbstständig sind und ihre Pflege mit Assistenten organisieren, müssen sich selbst um eine Impfung bemühen. Ein System wie beispielsweise in Italien, wo jeder Bürger zentral in seiner Kommune und der Gesundheitsversorgung angemeldet ist, macht es leichter, Impfungen anzubieten“, erklärt sie. In einem solchen zersplitterten System wie in Deutschland, mit seinen vielen Krankenkassen und ohne zentrale Erfassung, seien konkrete Impfangebote schwierig. Eine gesetzliche Bürgerversicherung würde die Möglichkeit bieten, Menschen konkret anzuschreiben.
Graumann kritisiert zudem, dass Menschen mit Behinderung durch die politische Entscheidung, Berufsgruppen wie Lehrer*innen eine Priorisierungsgruppe höherzustufen, zum Teil nun länger auf ihre Corona-Impfung warten müssten. Das sei ethisch problematisch und ungerecht. Nach Empfehlungen der Ständigen Impfkommission wurden Lehrer*innen zunächst in Gruppe drei eingeordnet, werden aber nach einer Änderung der Impfverordnung nun in Gruppe zwei geimpft .
Trotz aller Kritik werden aktuell, mit Hilfe der Einzelfallanträge und der Einbeziehung verschiedener Krankheitsbilder in Impfgruppe zwei, immer mehr Menschen mit Behinderung geimpft. Jessica, Leonard und Christian teilen dabei ein Gefühl: Erleichterung. Jessica erinnert sich aber auch an etwas anderes: ihre Wut. Darüber, dass sie so lange warten musste. „Meine Gedanken sind bei all den Menschen der Risikogruppe, die für eine Impfung kämpfen müssen. Es geht schlussendlich um unser Leben“, sagt sie. Leonard erzählt, dass er sich nun, geimpft, im Alltag ganz anders bewegen könne. Er lächelt, als er sagt, dass das Gefühl von einem „normalen Leben“ sehr wertvoll sei.
Auch Jessicas Eltern, bei denen sie lebt, sind als ihre Kontaktpersonen bereits geimpft worden. Die Angst, die sie bei Arztterminen trotz Maske und Abstand begleitet habe, sei kleiner geworden, sagt Jessica. Wenn sie ihre zweite Impfung erhalten hat, will sie auch wieder stundenweise in den Präsenzunterricht gehen. Dann aber in eine neue Klasse, sie muss das Schuljahr ja wiederholen.
Christian wünscht sich, bald ins Fußballstadion gehen zu können – oder auch einfach mal wieder ins Büro, er macht seit März 2020 durchgängig Homeoffice. „Das Größte wäre es, die Leute wiederzusehen, die ich am meisten vermisst habe“, sagt er. Einen Moment der Freiheit hatte er aber Anfang März, nachdem er seine erste Impfung erhalten hat: Seinen 25. Geburtstag hat er gemeinsam mit zwei Freunden feiern können, inklusive Masken, Abstand und Raumlüfter. Immer noch ein Pandemie-Geburstag, aber besser, als sich zum hundertsten Mal im Videochat zu sehen.
Anmerkung der Redaktion: Dieser Text ist in Zusammenarbeit mit der Katholischen Journalistenschule ifp entstanden. Die Autorin des Textes ist dort Stipendiatin und hat diesen Beitrag innerhalb eines gemeinsamen Projektes mit jetzt recherchiert und verfasst. Die im Rahmen des Projektes entstandenen Beiträge findest du auf der Themenseite „jetzt: Freiheit“.