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Zwitschernd Gehör verschafft

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jetzt.de: Frau Probst, Sie alias @EinAugenschmaus sind als einzige Deutsche unter den Top Tweets 2011 gelandet. Neben Protest-Twitter-Nutzern aus Ägypten und Notfall-Twitter-Nutzern aus Japans Tsnuami...
Julia Probst: Ich muss mich immer noch kneifen, dass das wirklich so ist. Diese Nennung ist quasi sowas wie der Twitter-Oscar. Wirklich eine immense Ehre. Und fast noch viel wichtiger: Jetzt weiß sogar Amerika Bescheid, wie wenig barrierefrei Deutschland ist.

Zwei Tage bevor Ihnen die höchste "Twitterwürde" zuteil wurde, hatten sie allerdings bekannt gegeben, den öffentlichen Einsatz für Barrierefreiheit beenden zu wollen. Wieso?
Weil ich einfach müde bin, für etwas kämpfen zu müssen, was mir laut Gesetz eigentlich fraglos zusteht. Die Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention, in die Deutschland 2009 einwilligte, erfüllen wir noch lange nicht. Ein einfaches Beispiel: Ich war 2010 beim Tag der offenen Tür des Bundeskanzleramtes. Außer dem Film über das Behördentelefon, welches es auch in Gebärdensprache gibt, war kein einziger Film mit Untertiteln oder Gebärdensprache versehen. Dieses Jahr war ich wieder dort und die Rede der Bundeskanzlerin war selbstverständlich wieder ohne Gebärdensprachdolmetscher. Da bin ich aufgestanden und hab mich zu Wort gemeldet: „Ich würde gerne mitbekommen, was hier gesagt wird. Doch es ist mir nicht möglich, da ich nicht hören kann." Merkel hat sich daraufhin entschuldigt und gesagt, dass man nicht daran gedacht habe, aber dass man dann nächstes Jahr ganz sicher einen Gebärdensprachdolmetscher haben werde...

Aber Sie glauben nicht daran?
Nein, eher nicht. Schauen Sie, ich habe den Regierungssprecher Seibert auf Twitter gefragt, warum der Videopodcast und die "Fragen und Antwort"-Videos der Bundeskanzlerin ohne Untertitel auskommen müssen. Darauf twitterte er zurück, dass er mit seinen Kollegen darüber nachdenken würde. Später gab es dann tatsächlich Untertitel. Das war etwas, was ich erreichen konnte. Aber die restlichen Inhalte des YouTube-Kanals der Regierung blieben weiterhin ohne Untertitel. Da frag ich mich doch ganz ernsthaft, warum die Regierung es nicht schafft selbstständig weiterzudenken, wenn ich sie doch auf den richtigen Weg gelotst habe?

Was wäre denn Ihre Top Anti-Barriere-Liste 2012? Was sollte sich in Deutschland am besten morgen ändern?
1. Zunächst müsste das komplette TV Programm mit hochwertigen 1:1 Untertiteln versehen werden. Außerdem sollte es bei allen Nachrichten- und  Kindersendungen Gebärdensprachdolmetscher geben. Und das nicht zuletzt deswegen, weil Gehörlose und Schwerhörige ab 2013 Rundfunkgebühren zahlen sollen.

2. Die Filmförderungsanstalten müssten in ihren Förderrichtlinien verpflichtende Angaben zur Barrierefreiheit aufnehmen, so dass Filme nur dann gefördert werden, wenn sie Untertitel und Audiodeskription für Blinde berücksichtigen. 

3. Der öffentliche Nah- und Fernverkehr sollte dazu verpflichtet werden, dass die digitalen Laufschriftanzeigen auf jedem Gleis aktuelle Informationen zeigen. Und auch in den Zügen sollte Laufschrift selbstverständlich sein, wenn der Zug Verspätung hat oder wenn man auf offener Strecke steht.

Das wären jetzt meine Top 3 Forderungen für Gehörlose und Schwerhörige. Aber es gibt da wirklich noch sehr viel mehr zu tun...

In vielen anderen EU Ländern wie  z.B. Großbritannien oder Griechenland sind Gebärdensprachdolmetscher wenigstens bei den Nachrichten schon lange Usus. Was glauben Sie woran das liegt, dass Deutschland da so hinterherhinkt?
Das Fernsehen sagt auf Nachfrage immer wieder, dass es zu teuer sei Gebärdensprachdolmetscher zu zeigen. Aber absurderweise, wenn dann einer vor Ort ist, wie beim Bundesparteitag der Grünen im November oder der SPD in Berlin am Sonntag, dann zeigen sie ihn nicht.

Und dadurch, dass die Gebärdensprachdolmetscher nicht zu sehen sind, sind für die Zuschauer auch die Gehörlosen weitestgehend nicht zu sehen.
Genau. Wir sind unsichtbar in der Masse.

Haben Sie schon mal bei einem Sender angerufen und gefragt, warum der Dolmetscher nicht mit ins Bild darf?
Oh, ja! Das sei technisch nicht möglich, heißt es dann. Im Zuge des Arabischen Frühlings habe ich mitbekommen, dass in Ägypten Gebärdensprachdolmetscher im Fernsehen selbstverständlich sind. In Ägypten - aus Deutschlands Sicht ist das ein Schwellenland!

Als Sie verkündeten, nun nicht mehr öffentlich aktiv sein zu wollen, hagelte es seitens ihrer Follower recht harsche Kritik. Von „im Stich lassen“ war die Rede. Braucht es wirklich „bekannte" Gallionsfiguren, um etwas zu erreichen?
Nein, jeder kann immer mal wieder die Qualität oder das Vorhandensein der Untertitel im deutschen Fernsehen überprüfen, Kritik üben und sie den Fernsehsendern mitteilen. Oder auch Transkriptionen von Reden anbieten, oder Untertitel in Videos einbauen. Spätestens im Alter werden wir alle davon profitieren. Und mir ist es wichtig zu betonen, dass ich nie zu einer Symbolfigur werden wollte, das hat sich durch den Ableseservice einfach entwickelt, dass ich Deutschlands bekannteste Gehörlose wurde. Und mit einem gewissen Bekanntheitsgrad, kommt dann schließlich auch eine gewisse Verantwortung. Aller Voraussicht nach werde ich wohl weiter bloggen und twittern müssen.

Müssen?
Ja, denn durch die Top Tweets Liste, habe ich jetzt noch ein bisschen mehr Stimme als vorher. Selbst die Huffington Post hat über mich berichtet. Aber nichtsdestotrotz werde ich erstmal eine wohlverdiente Pause einlegen. Um danach mit neuen Plänen - ich überlege beispielsweise auch einer Partei beizutreten - aktiv zu werden. Und bis ich zurückkomme, kann ich ihnen zum Beispiel  Christiane Link, Alexander Görsdorf und Judith Göller ans Herz legen, denn außer mir gibt es ja auch noch eine ganze Reihe anderer Blogger und Mikroblogger, die für Barrierefreiheit kämpfen.


Text: julia-friese - Foto: privat

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