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„Wir werden Anfängerfehler machen“
jetzt.de: Du bist jetzt Abgeordneter in einem Landesparlament, trotz eines wenig aussichtsreichen 14. Listenplatzes. Ein komisches Gefühl?
Simon Kowalewski: Komisch würde ich es nicht nennen. Aber es war natürlich schon eine Riesenüberaschung. Dass wir neun Prozent schaffen, hat vorher keiner wirklich geglaubt. Ich war vor allem glücklich, dass das alles so funktioniert hat und der Wahlkampf sich gelohnt hat. Überrascht war ich also schon.
War es ein Anfängerfehler, nur 15 Leute auf die Liste zu nehmen? Wenn ihr noch ein paar Wählerstimmen mehr bekommen hättet, wären Sitze im Parlament leer geblieben...
Dass wir nur 15 Leute aufgestellt haben, war vielleicht dumm. Wenn jetzt einer von uns ausfällt, gibt es keinen Ersatz. Dass so viel Erfolg über uns hereinbrechen würde, damit konnte allerdings auch keiner rechnen. Als wir die Liste gemacht haben, dachten wir: Woa, es wäre massiv cool, wenn wir fünf Prozent bekommen.
Als Nummer 14 auf der Liste hast du ja sicher nicht damit gerechnet, wirklich ins Abgeordnetenhaus zu kommen. Hat sich deine Lebensplanung am Sonntagabend verändert?
Ich bin Freiberufler, das heißt, ich muss jetzt wenigstens nirgends kündigen. Ich habe nebenbei noch ein veganes Bio-Café in Schöneberg betrieben. Was damit passiert, ist noch unklar. Ob das jemand anders macht oder wir das Café gleich in unser Bezirksbüro umwandeln. Das sind alles Dinge, die sich in den nächsten Tagen erst noch klären müssen.
Wie viel Zeit wird deine Arbeit als Abgeordneter denn in Zukunft in Anspruch nehmen?
Vermutlich alle Zeit, in der ich nicht schlafe. Ich habe vor der Wahl gesagt: Wenn ich ins Parlament komme, werde ich Vollzeitpirat. Und das mache ich jetzt auch. Ich sehe die Arbeit als einen Vollzeitjob. Ganz offiziell haben wir hier in Berlin ja ein Teilzeitparlament. Aber ich halte es für unrealistisch, nebenher noch etwas anderes zu machen, ohne das eine der beiden Beschäftigungen darunter leidet – vermutlich würden beide leiden.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
In etwa einem Monat geht es richtig mit der Parlamentsarbeit los. Wie bereitest du dich bis dahin vor?
Ich werde bis dahin vor allem Gesetze lesen. Die ganzen Geschäftsordnungen, Abgeordnetengesetz – alles, was man so wissen muss. Wir machen uns Gedanken, was passieren würde, wenn doch noch irgendjemand Koalitionsverhandlungen mit uns aufnimmt oder uns nach einer Duldung einer wie auch immer gearteten Regierung fragt. Wir werden uns Gedanken machen, wer in welchen Ausschuss mag und wie wir das alles hinkriegen, dass jeder in dem Ausschuss landet, in dem er zumindest grundsätzlich Ahnung hat. Ich werde mich in ganz viele Dinge einlesen müssen, gerade was die Landespolitik angeht. Ich habe vor der Wahl eigentlich damit gerechnet, dass ich in die Bezirksverordnetenversammlung komme, und habe mir deshalb vor allem die ganze Kommunalpolitikschiene angeschaut.
Wie viel Einlese-Arbeit ist das denn?
Allein das Abgeordnetengesetz in der kommentierten Ausgabe ist ja schon ziemlich dick. Ich werde aber auch versuchen, mit Leuten ins Gespräch zu kommen, die in der aktuellen laufenden Legislaturperiode im Abgeordnetenhaus sitzen. Einfach, um von denen zu erfahren, wie dort alles läuft. Leider haben wir keine eigenen Leute, die wir fragen könnten, deshalb müssen wir da auch auf unser politischen Gegner zu gehen.
Ist da der Wille denn groß, euch Nachhilfe zu geben?
Ich hatte bisher immer den Eindruck, dass die anderen Parteien da recht kollegial sind, zumindest in der Kommunalpolitik. Da hat uns ein Abgeordneter von der Linkspartei hier in Schöneberg ein zweistündiges Referat gehalten und uns alles erklärt, was man wissen muss, um in der Bezirksverordnetenversammlung effektiv zu arbeiten. Und ich denke mal, wir werden da auch im Abgeordnetenhaus jemanden finden.
Ihr seid ja von den Spitzenkandidaten der anderen Parteien belächelt worden, Wowereit hat sogar davor gewarnt, euch zu wählen. Glaubst du, man wird euch jetzt im Parlament von Anfang an ernst nehmen?
Wer jetzt noch über uns lacht, hat glaube ich ein gestörtes Realitätsempfinden. Aber natürlich werden wir uns unseren Stand dort erst erarbeiten müssen. Wir kommen da völlig neu rein, in unserer Fraktion sitzt keiner, der schon mal dabei war. Wir werden Anfängerfehler machen – garantiert. Man kann sich auf die Arbeit im Parlament auch nicht aus Büchern abschließend vorbereiten.
Im Abgeordnetenhaus sitzen über 140 Leute. Hast du überhaupt schon mal eine Rede vor einem so großen Publikum gehalten?
Ich habe schon immer gerne Reden gehalten. Ich war Schülervertreter und musste mich ja auch schon auf der Landesmitgliederversammlung vorstellen, um meinen Platz auf der Liste zu bekommen. Ich sehe da kein Problem. Vielleicht kann ich rhetorisch noch was machen. Aber wir haben ja zum Glück auch Linguisten in der Partei, die auch schon Rhetorikkurse angeboten haben.
Musst du dir jetzt extra einen Anzug kaufen?
Das werde ich garantiert nicht tun. Ich halte nichts von Anzügen. Ich besitze genau einen, und den habe ich zuletzt bei der Beerdigung meines Onkels getragen. Ich trage am liebsten Cargohosen mit ganz vielen Taschen, in denen ich meine ganzen Gadgets unterbringen kann. Ich bin da der komplette Klischee-Erfüller. Aber ich finde das auch ok. Wir haben so Wahlkampf gemacht, die Leute haben uns so gewählt, und deswegen sehe ich keinen Grund, warum wir uns jetzt anders ins Parlament setzen sollten.
In einem Interview mit dem RBB hat sich gezeigt, dass die Piraten sich noch nicht ausgiebig mit den Details der Berliner Landespolitik befasst haben. Dafür gab es viel Häme. Werdet ihr jetzt Fakten büffeln?
Das gehört schon dazu. Nachdem unser Spitzenkandidat das mit der Verschuldung des Landes Berlin noch nicht so ganz auf dem Kasten hatte, gab es zwei Tage später eine App, die sekündlich genau die aktuellen Schulden Berlins anzeigt.
Hättest du die Zahl gewusst?
Ich hätte sie auch nicht ganz genau gewusst. Ich hätte vielleicht ein paar Milliarden gesagt. Vielleicht hätte ich gesagt, dass ja nicht wir diese Schulden verursacht haben, und dass es jetzt unsere Aufgabe ist, dafür zu sorgen, dass es weniger werden.
Dafür sollte man aber vielleicht auch wissen, um wie viele Schulden es sich handelt.
Es hilft natürlich, bescheid zu wissen. Und wir sind jetzt auch alle gerade dabei, den Monat, der uns noch bleibt, zu nutzen, um solche Sachen auf den Kasten zu kriegen. Da sehe ich kein Problem. Wir kriegen das hin.
Eines eurer Ziele ist es, Transparenz ins Abgeordnetenhaus zu bringen. Wie wollt ihr das machen?
Wir werden das ohnehin schon begonnene Projekt Open-Data vorantreiben. Wir wollen einfach, dass sich jeder an Politik beteiligen kann. Das ist unser Ansatz. Und das geht nur, wenn jeder die Informationen erhält, die er dazu braucht. Man muss dem Bürger die Rohdaten der eigenen Entscheidungen zeigen, damit er nachrechnen kann, auf welchen Grundlagen man seine Entscheidungen getroffen hat. Außerdem werden wir versuchen, so viele Ausschuss-Sitzungen wie möglich öffentlich zu machen. Wir wollen, dass sich jeder bei Themen, die ihn interessieren, mit in den Ausschuss reinsetzen und zuhören kann. Inwieweit das möglich ist, werden wir noch prüfen müssen. Nicht zuletzt wollen wir, dass die Bürger sich außerhalb der parlamentarischen Arbeit schon im Vorfeld zu Themen äßern können, sodass wir als Piraten mit unseren Stimmen die Dinge ins Parlament einbringen, zu denen wir uns vorher zusammen mit den Bürgern eine Meinung gebildet haben.
Wird das alles nur über das Internet ablaufen?
Es wird hoffentlich viel im Netz passieren, weil es da sehr einfach ist, schnell über Anträge zu diskutieren – zum Beispiel über Tools wie unser Liquid Feedback. Aber ich werde als Abgeordneter immer ansprechbar sein und ein offenes Büro haben, wo man einfach mal vorbeikommen und mit mir sprechen kann.
War euer Erfolg ein Berlin-spezifischer, oder war das jetzt der Start einer größeren Präsenz der Piraten in deutschen Parlamenten?
Gestern Abend ist der zweite große Dammbruch geschehen. Der erste war, als die Piraten in Schweden ins EU-Parlament eingezogen sind. Ich denke, dass unser Wahlerfolg eine wahnsinnige Ausstrahlungskraft hat – nicht nur auf Deutschland, sondern auf die mehr als 50 Piratenparteien in der ganzen Welt. Wir haben gezeigt, dass die Piraten mit harter Arbeit auch ein Landesparlament besetzen können. Diejenigen, die das bis jetzt für völlig unmöglich gehalten haben, werden das jetzt vielleicht schon anders sehen.