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"Viele talentierte Leute gehen für die Forschung verloren"

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Wer nach dem Studium an der Uni bleiben und forschen will, steht vor einer unsicheren beruflichen Zukunft. Damit sich das ändert, haben Doktoranden in Zusammenarbeit mit der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft einen Leitfaden für Hochschulen und Forschungseinrichtungen erarbeitet: den Herrschinger Kodex, der am Donnerstag vorgestellt wird. Wiebke Esdar, Doktorandin an der Uni Bielefeld, hat den Kodex mitentwickelt. Gleichzeitig promoviert sie über „Zielkonflikte von Nachwuchswissenschaftlern am Arbeitsplatz Hochschule“.

jetzt.de: Wiebke, mit dem „Herrschinger Kodex“ wollt ihr die häufig prekäre Situation von Nachwuchswissenschaftlern an den Hochschulen verbessern. Unter welchen Bedingungen promovierst du denn?  
Wiebke Esdar: Meine Situation ist so, dass ich während meiner Doktorarbeit zuerst ein Jahr lang in einem Forschungsprojekt gearbeitet habe. Inzwischen habe ich ein Stipendium von der Hans-Böckler-Stiftung und nebenbei noch eine Viertelstelle an der Uni mit doppeltem Lehrdeputat, das heißt, ich lehre zwei Semesterwochenstunden, was eigentlich einer halben Stelle entspricht. Das Stipendium ist auf maximal drei Jahre befristet, die Stelle inzwischen zum zweiten Mal auf ein Jahr.  

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Wiebke Esdar

Geht es dir damit im Vergleich zu anderen Doktoranden eher gut oder eher schlecht?  
Ich glaube, ich bin der Normalfall. Das zeigen auch die Statistiken. Typisch ist, dass ich ganz unterschiedliche Finanzierungsformen habe, dass meine Stelle immer wieder befristet wird und auch, dass ich ein Stipendium bekomme. Immer mehr Doktoranden sind Stipendiaten.  

Ist das nicht eine positive Entwicklung, wenn ein Stipendium Doktoranden ermöglicht, sich auf ihre Promotion zu konzentrieren?
Ein Stipendium hat den Nachteil, dass man keine Sozialabgaben leistet, also zum Beispiel noch keine Rentenbeiträge zahlt, und wenn man nach der Dissertation arbeitslos wird, hat man auch keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld. Außerdem muss man sich als Stipendiat, der nicht übermäßig viel Geld bekommt, von diesem Stipendium auch noch krankenversichern.    

Mit dem Herrschinger Kodex wollt ihr bessere Arbeitsbedingungen in der Wissenschaft erzielen. Welche Probleme haben Nachwuchswissenschaftler? 
Natürlich haben wir zwar das Glück, dass wir uns mit etwas beschäftigen können, das uns sehr interessiert. Die Entscheidung für die Forschung ist in der Regel aber eine Entscheidung für prekäre Arbeitsbedingungen. Erstens ist da vor allem die unsichere Berufsperspektive durch die verbreiteten Befristungen zu nennen. Nur zwei Prozent der Stellen für wissenschaftliche Mitarbeiter, also diejenigen, die keine Professur haben, fallen nicht unter das Wissenschaftszeitvertragsgesetz, sind also unbefristete Stellen. Außerdem sind die Laufzeiten der unbefristeten Stellen häufig sehr kurz: 53 Prozent aller wissenschaftlichen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen haben einen Vertrag mit einer Laufzeit von unter einem Jahr. Ein zweiter Punkt ist die Bezahlung im Verhältnis zur geleisteten Arbeit. Laut Vertrag ist der Stundenlohn zwar gar nicht so niedrig. In der Realität ist es aber so, dass viele zwar etwa eine halbe Stelle haben. Deswegen können sie aber nicht am Mittwochmittag den Computer herunterfahren. Sondern es wird häufig stillschweigend erwartet, dass 40 Stunden oder noch mehr gearbeitet wird.  

Ist die Situation von Doktoranden in allen Fächern so prekär oder gibt es Unterschiede?
Es gibt deutliche Fächerunterschiede, die sich daraus ergeben, wie der außeruniversitäre Arbeitsmarkt aussieht. Verallgemeinernd kann man sagen, dass es zum Beispiel in den Ingenieurswissenschaften und den Naturwissenschaften mehr volle Stellen gibt als in den Geistes- oder den Sozialwissenschaften.  

Wie soll der Herrschinger Kodex das ändern? Was fordert ihr?
Wir fordern grundsätzlich, dass es sichere, berechenbarere Karrierewege geben muss und sich die Arbeitsbedingungen verbessern. Zum Beispiel, dass berücksichtigt wird, dass, wer innerhalb einer bestimmten Zeit promovieren muss, nur eine bestimmte Menge Lehre leisten kann. Der Herrschinger Kodex ist dabei als Leitfaden für Hochschulen und Forschungseinrichtungen vor Ort gedacht, mit Anregungen, wie sie Personalpolitik konkret gestalten können. Die Interessenvertretungen der wissenschaftlichen Mitarbeiter an den Universitäten müssen das natürlich aufnehmen und jeweils über konkrete Mindeststandards vor Ort mit ihrer Hochschulleitung verhandeln. Das Ziel ist, dass dann am Ende die Hochschulleitung zum Beispiel der Uni Bielefeld auch unterschreibt, dass wir bestimmte prekäre Beschäftigungsbedingungen hier nicht haben wollen.  

Die Probleme von Nachwuchswissenschaftlern gibt es schon länger, den Hochschulleitungen dürften sie also bekannt sein. Für wie realistisch hältst du es denn, dass sich mit dem Kodex tatsächlich etwas ändert?   
Das Ziel des Kodex ist ja, dass Hochschulleitungen vor Ort konkrete Vereinbarungen für Mindeststandards unterschreiben. Natürlich ist so etwas kein Gesetz. Aber wenn sich Hochschulleitungen nicht an Vereinbarungen halten, können wir darauf aufmerksam machen und, wenn es nötig ist, das auch skandalisieren. Aber die Hochschulleitungen dürften durchaus ein Interesse daran haben, dass sich endlich etwas ändert. Die Probleme der Doktoranden sind am Ende auch die Probleme der Universitäten. Sie werden als Arbeitsplatz immer unattraktiver. Viele gute, talentierte Leute gehen für die Forschung verloren, weil sie zum Beispiel genug Sicherheit haben wollen, um eine Familie zu gründen.
 
Wenn die Bedingungen für den einzelnen Nachwuchswissenschaftler besser werden, also aus seiner halben Stelle eine volle wird, dann heißt das am Ende aber womöglich auch, dass dann viel weniger Absolventen promovieren werden können.
Die erste, ganz grundlegende Forderung ist, dass wir natürlich eine bessere finanzielle Ausstattung der Hochschulen bekommen. Wir sehen ja, dass genug Arbeit da ist. Das, was bisher auf zwei halben Stellen geleistet wurde, die in der Realität zwei vollen Stellen entsprechen, kann in Zukunft natürlich nicht von einer einzigen Person geleistet werden, die Vollzeit angestellt wird. Die Frage von Sicherheit und Unsicherheit wiederum ist aber vor allem eine Frage der Organisation, nicht von Kosten. Es kann mir keiner erzählen, dass es notwendig ist, dass über die Hälfte aller wissenschaftlichen Mitarbeiter Verträge haben, deren Laufzeiten unter einem Jahr liegen. Das ist auch eine Frage des Wollens.         




Text: juliane-frisse - Foto: Uni Bielefeld

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