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Unterricht ohne Bücher
In diesen Tagen beginnen in Deutschland die Abiturprüfungen. Zum dritten Mal verlassen die Abiturienten in Bayern nach acht Stufen das Gymnasium. Die Münchnerin Leonie Zoch (20) besuchte den ersten G8-Jahrgang. Ihre Erfahrungen als Versuchskaninchen beschreibt sie in dem Buch „Weniger ist mehr. Ein Insider über das G8 und das Abitur“, das jetzt erschienen ist. Im Interview spricht sie über die Konsequenzen des schnellen Wechsels: Unterricht ohne Schulbücher, wenig Freizeit, wenig Auswahl.
Jetzt.de: Für alle, deren Abschluss schon etwas zurückliegt: Was sind die größten Unterschiede zwischen G8 und G9?
Der auffallendste Unterschied, natürlich: das Jahr weniger. Die Konsequenz ist, dass man nahezu denselben Stoff in weniger Zeit unterbringen muss. Auch das Abitur in Bayern hat sich geändert, im G9 gab es vier, im G8 gibt es jetzt fünf Abiturfächer. Gleichzeitig wurde die Wahlfreiheit erheblich eingeschränkt, jeder Schüler muss in Mathe, Deutsch und einer Fremdsprache Abi machen und darf sich nur noch zwei Fächer selbst aussuchen. Damit können Schüler in der Oberstufe kaum mehr individuelle Schwerpunkte setzen. Fast jeder von meinen Mitschülern musste Abi in einem Fach schreiben, das ihm nicht so lag.
Jetzt.de: Wie groß war die Verwirrung nach der Umstellung?
In meinem Jahrgang haben die Schulbücher in den verschiedenen Stufen meistens bis Weihnachten gefehlt, Übungshefte wurden überhaupt erst ein paar Jahre später entwickelt. Das waren die Konsequenzen davon, dass G8 so übereilt beschlossen wurde. Die Situation ohne Bücher war vor allem für die Lehrer anstrengend. Aber Lehrer und Schüler haben wirklich versucht, das Beste aus der Situation zu machen.
Jetzt.de: Hat sich dein Jahrgang dann wie ein Experiment gefühlt?
Ja, das zeigt auch unser Abispruch: "Versuchskaninchen frei zum Absch(l)uss." Aber wir haben es immer mit Ironie genommen, dass es uns getroffen hat. Und es hat den Jahrgang auch zusammengeschweißt.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Zu wenig Zeit für ihre Hobbys - das schlauchte die Münchnerin Leonie Zoch (20). In einem Buch verarbeitet sie die Schattenseiten der zu schnellen Umstellung auf das achtstufige Gymnasium.
Jetzt.de: Nach dem Abitur hast du ein Jahr lang an dem Buch geschrieben – wie kamst du auf die Idee? Und wieso hattest du die Zeit?
Mir war klar, dass die meisten meiner Mitschüler sagen: Ich hab’s jetzt hinter mir und damit abgeschlossen. Ich fand es hingegen wichtig, meine Erfahrungen als Schülerin des ersten G8-Jahrgangs zu verarbeiten und wollte anderen Leuten helfen, die selbst noch da durch müssen. Ich will Medizin studieren, hatte aber nicht den passenden Schnitt und brauchte Wartesemester. Deswegen habe ich von vorneherein geplant, ein Jahr Pause zu machen. Das haben aber auch viele meiner Mitschüler gemacht, weil uns in der Schule die Zeit zur Orientierung fehlte.
Jetzt.de: Was war dein größtes Problem mit dem G8?
Es war anstrengend, weil uns mit Nachmittagsunterricht plus Hausaufgaben und Lernen so viel Freizeit weggenommen wurde. Dabei braucht man diese Stunden, in denen man sich mal richtig erholen kann. Für mich ist zum Beispiel die Musik sehr wichtig, um Kraft zu tanken. Deswegen habe ich nach der Schule erst mal meine Gitarre in die Hand genommen, auch wenn noch Hausaufgaben da waren.
Jetzt.de: In deinem Buch gibst du auch Lerntipps fürs Abitur. Warst du selbst eine gute Schülerin? Wie hast du dich auf Prüfungen vorbereitet?
Ich würde mich als Durchschnittsschülerin bezeichnen, total normal. Genau wie meine Mitschüler hab ich mit den Jahren meine eigene Lernmethode gefunden. Ich habe den ganzen Stoff für die Klausur immer meiner Mum erzählt, später wurde sie durch Stofftiere oder meinen Hund ausgetauscht. Denn wenn ich etwas frei in eigenen Worten erzählen kann, habe ich es garantiert verstanden. Genauso merkt man dadurch, dass man an anderer Stelle vielleicht noch nachlernen muss.
Jetzt.de: Findest du, dass man als G8-ler die Vorzüge der beiden Systeme vergleichen kann?
Man kann sie nach objektiven Kriterien vergleichen. Aber welches für den Schüler besser ist, könnte ich nur beurteilen, wenn ich selbst beide Systeme durchlaufen hätte. Deswegen finde ich die Frage, ob ich lieber neun Schuljahre gehabt hätte, so schwer. Ich kann nur meine Situation beurteilen und sagen, was ich blöd oder gut fand. Mir ist es auch wichtig, die Stimmen der heutigen Schüler zu kennen. Deswegen freue ich mich immer auf die Diskussion bei meinen Lesungen. Bei den Gesprächen merke ich, dass sie sich in die Situation besser eingelebt haben als mein Jahrgang und etwas entspannter wirken. Was nicht heißen soll, das sie keinen Stress haben. Aber das System hat sich jetzt schon ein paar Jahre warmgelaufen.
Jetzt.de: Wie reagieren deine ehemaligen Mitschüler und Lehrer auf dein Buch?
Die Mitschüler reagieren total unterschiedlich. Es gibt viele, die mich sehr unterstützen. Es gibt aber auch ein paar, die sagen „Du übertreibst und stellst es viel zu schlimm dar“. Aber das ist die absolute Minderheit. Das Feedback von der Lehrerseite finde ich besonders spannend. Von meinen ehemaligen Lehrern hat keiner damit gerechnet. Als Lehrer sind sie im Zwiespalt, denn sie müssen so oder so damit leben. Als ehemalige Schülerin kann ich über die Probleme freier sprechen. Was mich so freut ist, dass mein früherer Direktor das Buch schon gelesen hat und total begeistert ist.
Text: dorothea-wagner - Foto: Simon Kirsch