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"Rausch ist nicht gut oder schlecht"
jetzt.de: Wäre dieses Gespräch eigentlich interessanter oder gewinnbringender, wenn wir es im Rausch führen würden?
Daniel Kulla: Das tun wir doch! Keinen Kaffee getrunken heute? Keine Adrenalinreaktionen beim Umgang mit den Mitmenschen erlebt? Keine Euphorie, kein Tagtraum? Und versuchst du jetzt nicht, auf andere Bedeutungsebenen zurückzugreifen, um Fragen zu formulieren?
Du legst sehr viel Wert darauf, dass man den Begriff Rausch nicht zu eng versteht.
Wenn wir uns überlegen, was im Deutschen alles mit Rausch bezeichnet wird, und dann schauen, wo wir das überall antreffen – dann haben wir den Rausch als universelles Alltagsphänomen: Seit mehreren hundert Millionen Jahren ist das Leben aller Tiere mit einem Nervensystem eine kaum unterbrochene Abfolge von verschieden starken und unterschiedlichen Rauschzuständen. Das kann ausgelöst sein durch die Einnahme von Substanzen oder durch bestimmte Handlungen, oft auch quasi automatisch, wie zum Beispiel im Adrenalinrausch. Eigentlich ist jede mögliche Rückkopplung von Wahrnehmung Rausch.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Daniel Kulla.
Wieso hat Rausch diese große politische Dimension, die du ihm zuschreibst?
Im Rausch kommt die Reihenfolge der Signalweitergabe im Nervensystem durcheinander. Signale aus unterschiedlichen Zeiten, von vor ein paar Sekunden oder aus der Kindheit, treffen gleichzeitig ein. Wenn das unter günstigen Bedingungen geschieht, dann nehmen wir mehrere Momente im selben Moment wahr und können dann leichter Entwicklungen, Prozesse, oder Veränderungen erkennen. Die Dinge geraten in Bewegung, es tun sich Auswege und Fluchtwege auf, überhaupt mehr Handlungsoptionen.
Das klingt sehr abstrakt.
Ich betrachte etwa im intensiven Rausch einen Wald und denke dann über sein Wachstum nach und die Evolution seiner Flora und Fauna. Dann stelle ich womöglich fest, was für einen kurzen Zeitraum die Herrschaft in der Geschichte der Welt nur einnimmt, wie schnell sie entstanden ist und wie wenig ewig das wirkt. Vielleicht betrachte ich auch eine Packung Gummibären und stelle fest, dass da alles draufsteht, nur nicht, was es ist und wer es hergestellt hat. Rausch erzeugt Momente, in denen selbstverständlich Scheinendes nicht mehr selbstverständlich ist – und in denen auch die Gesellschaftsordnung als veränderbar begriffen werden kann.
Du kritisierst nicht nur die Drogenpolitik, sondern auch die institutionalisierte Drogenhilfe und forderst Solidarität mit Dealern ein.
Solange die meisten populären Rauschmittel verboten sind, die genussbringend und therapeutisch wirksam sind, hängt vom Verhalten der dealenden Klasse ab, mit wie viel Rahmeninformation Rauschmittel welcher Qualität in Umlauf kommen. Dabei tragen die Dealer das größte Risiko, besonders die prekär Beschäftigten im Straßenverkauf. Denen wird eben nicht nur der Führerschein entzogen, sondern die wandern zum Teil für Jahre ins Gefängnis oder werden bei laufenden Asylverfahren abgeschoben.
Aber ist ein Dealer nicht häufig jemand, der am Leid anderer verdient?
Im Kapitalismus ist es meines Erachtens sehr schwer, nicht am Leid anderer zu verdienen. Das hat relativ wenig mit den konkreten Waren zu tun, die produziert oder gehandelt werden. Es gibt eine riesige Nachfrage nach Rauschwaren, die kaum bedient werden kann. Wer sie haben möchte oder aus medizinischen Gründen braucht, sollte sich vielleicht Gedanken darüber machen, wie sie zu ihm gelangen.
Wenn es um den richtigen Umgang mit Rausch geht, ist dir die Idee des „Tripsitters“ wichtig.
Wie sich Rausch entfalten kann, hängt von vielen Faktoren ab, die man mit wachsender Erfahrung auch allein im Blick behalten kann: wie es einem geht, was und wer um einen herum ist, die genaue Beschaffenheit des Rauschauslösers. Aber gerade wenn man neue Rauschformen erkundet, ist es aber fast unverzichtbar, das mit jemandem zu unternehmen, der sich bereits auskennt, der einen kennt und in dessen Gegenwart man sich wohlfühlt. Meist gibt es ein Vorgespräch, um die Erwartungslage zu klären, um herauszufinden, was einem guttut und während des Rauschs aufgesucht werden sollte und wovon man sich lieber fernhalten sollte. Gut begleitete Trips sind erheblich weniger riskant und haben häufig einen höheren Erkenntnisgrad.
Du schreibst, dass die gesellschaftlichen Gegebenheiten einen angstfreien Rausch schwierig machen. Wenn ich keine Drogen zu mir nehme, weil ich Angst vor negativen Wirkungen habe, gehe ich dann also nur einer Ideologie auf den Leim?
Insoweit die Bedrohungen real sind, ist die Angst vor ihnen völlig begründet. Im Rausch sind Menschen oft empfindlicher, sie können Ekstase und Erkenntnis erleben, aber auch viel stärker verletzt werden und sich dagegen oftmals nicht wehren. Solange Rausch als Schwäche angesehen wird und diese als Einladung zum Übergriff und zur Belästigung, ist leider Vorsicht geboten. Wer ständig so etwas zu befürchten hat, hat es schwerer, sich gehen zu lassen. Deshalb bin ich für den Versuch, möglichst angstfreie Situationen für Rausch zu schaffen: Herrschaft, Konkurrenz und Verwertung sollen so wenig wie möglich präsent sein – was ganz ähnlich auch für sexuellen Rausch gilt.
Aber gibt es nicht viele Ängste vor dem Rausch, die total unpolitisch sind? Wenn ich mich davor fürchte, im Rausch etwas Riskantes und Dummes zu tun: aus dem Fenster zu springen oder auf eine Autobahn zu laufen.
Wenn das die größte Sorge ist, ist man vermutlich ein Kerl, nicht arm und ohne größere Konflikte mit dem Gesetz. Wenn du im Rausch nicht auf die Autobahn laufen willst, dann mach ihn nicht alleine und nicht in der Nähe einer Autobahn. Dagegen, dass Autos eine Bedrohung für berauschte und unberauschte Fußgänger sind, kannst du individuell aber wenig machen.
Wo liegen denn die meisten Probleme im privaten sozialen Umgang mit Drogen?
Einerseits ist die Situation katastrophal: Durch die Illegalität herrschen Halbwissen und unreine Substanzen vor, in Gruppenzwang übersetzter sozialer Druck und Ambivalenz des Gesetzesbruchs lassen den Rausch fast zur Nebensache werden. Wenn es darum geht, wie viel jemand verträgt oder was er sich traut, spielt es kaum noch eine Rolle, was da genau mit einem vorgeht, wo die individuellen Grenzen verlaufen, was der Rausch jenseits von Kompensation und Warenkonsum noch alles sein kann.
Wenn du und Torsun von Egotronic bei Lesungen von Kokslines erzählen, die um die ganze Theke herumgehen – tragt ihr dann nicht zu dieser Wieviel-Ideologie bei?
Es war Speed, und in dieser Anekdote aus unserem Buch „Raven wegen Deutschland“ geht es um Liebeskummer, Verliebtsein und das Feiern eines wunderbaren Moments. Zu dem gehörten diese Endlosline und die schon eingeworfene halbe Pille. Wer sich davon nur merkt, dass es um Drogen geht, der kommt wohl am Fetisch irgendwie nicht vorbei.
Was ist denn zu empfehlen, um den Rausch aus dieser Eingeklemmtheit zu befreien, die du beschreibst?
Wie auch sonst im zwischenmenschlichen Umgang kann ich auch für Rauscherkundung nur Entspannung und Umsicht empfehlen. Rausch kann vorbereitet und gestaltet werden: Er ist keine andere Welt, in die wir mehr oder weniger verschwinden, er ist etwas, das wir tun. Es gibt eine Fähigkeit zum Rausch, die durch Übung und Überlegung entwickelt werden kann.
Rausch sollte also ganz jenseits von Rock’n’Roll-Phantasien sehr spießig geplant und geübt werden?
Das scheint mir auch eine Frage aus männlicher Sicht zu sein, weitgehend ungetrübt von Armut und Strafverfolgung. Die meisten Menschen müssen, um sich mal richtig fallen lassen zu können, relativ viele Vorbereitungen treffen. Wer das nicht muss, der kann sich entweder darauf verlassen, dass sich andere um ihn kümmern, oder er kann sich dieses Kümmern im Notfall einfach kaufen. Andere möchten sich unter ungünstigeren Ausgangsbedingungen diese Erlebnisse mit mehr Aufwand und Vorüberlegung verschaffen. Wer das als spießig denunziert, gesteht nur wohlhabenden Kerlen starken Rausch zu.
Einerseits ist die Situation katastrophal, sagst du – und andererseits?
Andererseits ist es für mich erstaunlich, dass es angesichts der Rahmensituation zu viel weniger Problemen zu kommen scheint, als ja immer wieder befürchtet wird. Wo der Rausch erlernt werden kann, wo es freundliche Quellen gibt und Menschen ihre Erfahrungen mit dem Rausch teilen, findet immer auch schon entfalteter Rausch statt: sich selbst kennenlernen, andere kennenlernen, Kraft schöpfen, das Woher und Wohin in den Blick bekommen, Pläne schmieden, auf dumme Gedanken kommen. Von denen einige hoffentlich irgendwann damit zu tun haben, die gesellschaftlichen Widersprüche zu betonen, die Klassenkämpfe zu entfalten und sich das Kapitalverhältnis vorzunehmen.
Aber die Realität sieht doch anders aus: Leute, denen es dreckig geht, flüchten sich in Drogen, um ihr Leid zu betäuben. Da ist doch dann nicht viel Ermächtigendes dabei.
Rausch ist nicht gut oder schlecht, und er ist nichts dem Menschen Äußerliches. Mit Rausch lässt sich Herrschaft genauso befördern wie erschüttern. Aus Herrschaftsperspektive ist es wahrscheinlich am besten, wenn wir glauben, dass mit dem Rausch dann am wenigsten Übel passiert, wenn wir uns möglichst wenig damit beschäftigen und uns an den Massenspektakeln berauschen, vom Krieg übers Myfest bis zur Fußball-WM. Damit der Rausch ermächtigen kann, müssen wir das Gegenteil tun und ihn, um Wolfgang Neuss zu zitieren, üben, üben, üben.
Daniel Kullas „Leben im Rausch. Evolution, Geschichte, Aufstand” ist im Verlag Werner Pieper & The Grüne Kraft erschienen.
Text: lars-weisbrod - Foto: Alexander Klink (CC BY 3.0)