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"Poesie kann Sozialkritik und Selbsttherapie in einem sein"

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Simon hat 2007 sein Abitur gemacht, war ein Jahr in Südafrika und studiert jetzt an der Evangelischen Hochschule in Freiburg Soziale Arbeit. Seit Dezember ist er regelmäßig auf den Poetry Bühnen Deutschlands zu sehen, wo er mehrere Slam Siege errungen hat. Für Freiburg tritt er bei den Nationalen Poetry Slam Meisterschaften 2010 an. jetzt.de: Simon, eines deiner Gedichte heißt „Warum ich so bin wie ich bin“. Darin beschreibst du dich als Dichter, „stets von Minnesang umweht“. Woher kommt dein Faible für die schönen Worte? Simon: Ich habe schon immer gerne gelesen und Lebensweisheiten, Redewendungen und Gedichte gesammelt und für mich aufgeschrieben. Insofern würde ich schon sagen, dass Sprache einen wichtigen Bestandteil meines Lebens ausmacht und ich ein Faible für „schöne Worte“ habe. Diesbezüglich habe ich auch einmal folgende Zeilen verfasst: Lyrik schreibe ich zur Muße, freu mich daran allzeit wieder, denn Gedichte klingen wie die allerschönsten Lieder, sind die Kraft, von der ich zehre, die ich niemals mehr entbehre! jetzt.de: Du hast deinen Zivildienst an einer Schule für körperbehinderte Kinder in Südafrika absolviert. Kann man auch aus solchen Erfahrungen Poesie machen? Simon: Während meiner Zeit in Südafrika habe ich viele Erfahrungsberichte geschrieben und auch online für meine UnterstützerInnen publiziert. Durch diese monatlichen Berichte habe ich bereits einen Großteil der Erfahrungen in sehr nachdenklichen und teils auch kritischen Texte verarbeitet, die man auf meinem Blog lesen kann. Auch eines meiner Gedichte handelt von dem inneren Konflikt und der schrecklichen Hilflosigkeit, die ich empfand, als ich von der HIV-Infektion eines der Kinder erfahren hatte. Was soll man einem Kind sagen, dass beide Eltern verloren hat oder sich mit HIV infiziert hat? Wie kann ein „gerechter und gütiger Gott“ so etwas zu lassen?

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Simon auf der Bühne jetzt.de: Hast du eine Antwort gefunden? Simon: Nein. Für mich ist damals eine kleine Welt zusammengebrochen, ich fiel in ein tiefes Tal und litt unter schweren Depressionen. Deswegen musste ich auch mein Freiwilliges Soziales Jahr frühzeitig abbrechen. Rückblickend muss ich sagen, dass ich mir damals zu viel vorgenommen hatte und ich noch nicht reif genug für Afrika gewesen bin: die fremde Kultur und vor allem auch die eigene Hilflosigkeit angesichts der krassen Armut, sowie „innere und äußere Konflikte“ haben mir schließlich jeglichen Lebensmut geraubt. Inzwischen glaube ich jedoch, dass gerade dieser Zusammenbruch und all die damals auftauchenden Konflikte sinnvoll waren; ein Nährboden für Neues so zu sagen. jetzt.de: Für was zum Beispiel? Simon: Bisher vor allem für die Bühne, wenngleich ich neben Studium und Auftritten noch an einem kleinen Lyrik-Band arbeite, den ich hoffentlich im Verlauf nächsten Jahres veröffentlichen werde. Im Grunde geht es um Aufbruch und den Abnabelungsprozess von meinen Eltern, um die Phase der Depression und Hoffnungslosigkeit, aber auch um das Gefühl des Heimkommens, um Rückkehr und Sinnsuche, letztlich also um eine Reflexion der letzten vier Jahre meines Lebens! Momentan lasse ich aber noch Illustrationen von Freunden anfertigen und auch der ein oder andere Text muss nochmals überarbeitet werden. jetzt.de: Passen diese ernsten Themen denn zu Poetry Slams? Dort kommen doch vor allen Dingen die lustigen Texte gut an. Viele Poetry Slam Bühnen wirken wie Bühnen für Stand-Up Comedians. Simon: Sicherlich ist ein gewisser Trend zu humorvollen und unterhaltsamen Texten nicht von der Hand zu weisen. Ich persönlich finde es allerdings schwieriger, einen wirklich lustigen Text zu schreiben. Man nehme an, man möchte einen lustigen Text vortragen und keiner lacht! Bei nachdenklichen Texten kann einem das nicht passieren – vielleicht schreibe ich ja deswegen lieber nachdenkliche Lyrik? Gerade weil häufig die lustigen Texte mit einer guten Portion Sex, flachen Witzen und „Hypermotorik“ vorgetragen werden, stellt sich umso mehr stets die Frage nach dem Warum. Anscheinend ist dies eben genau die Art von Unterhaltung, welche der Großteil des Publikums möchte und letztlich entscheidet ja das Publikum über Sieg oder Niederlage. Der deutsche Rapper Dendeman hat hierzu kürzlich einen sehr passenden, gesellschaftskritischen Song rausgebracht: „Stumpf ist Trumpf!“ jetzt.de: Taugt der Slam zur Gesellschaftskritik? Simon: Klar, neulich habe ich beispielsweise einen Vortrag an einer Schule in Freiburg über Poetry Slam und meine Arbeit in Südafrika gehalten. Ich habe versucht, die Jugendlichen zu motivieren und ihr Interesse an Poesie und sozialem Engagement zu wecken. Mir war dabei besonders wichtig, den Jungs und Mädels etwas von meinen Erfahrungen mitzugeben und Ihnen zu zeigen, dass es nicht total wichtig ist, direkt nach der Schule eine Ausbildung oder ein Studium zu beginnen, sondern dass es viele Möglichkeiten gibt, die man allerdings während der Schulzeit oft gar nicht im Blick hat. Da wird einem häufig eingebläut, man müsse sofort studieren, um schnell möglichst im Berufsleben Fuß zu fassen, was meiner Meinung nach totaler Unsinn ist! Es gibt so viel Möglichkeiten und Chancen. Gerade nach der Schulzeit sollte man die Zeit nutzen, um noch in andere Bereiche reinzuschnuppern und Neues kennenzulernen. Darüber hinaus plane ich, in meinem Praxissemester in einer Seniorenbegegnungsstätte diverse Poetry-Projekte mit den Senioren durchzuführen und einen Lyrik-Kreis zu gründen! In Illertissen bei Ulm, wo ich mein Abitur absolviert habe, bin ich außerdem momentan dabei, einen Poetry Slam in einem Jugendhaus aufzuziehen. jetzt.de: Wie soll ich mir ein Poetry Projekt mit Senioren vorstellen? Simon: Dazu kann ich momentan noch nichts allzu Konkretes sagen, da ich erst in den nächsten Monaten an einem Alzpoetry-Workshop teilnehmen werde. jetzt.de: Einen was? Simon: In der Theorie - also nach dem, was ich auf www.alzpoetry.de gelesen habe - soll es so sein, dass durch klassische Verse ein emotionaler Zugang zu an Alzheimer oder Demenz erkrankten Menschen geschaffen werden soll. Der Schriftsteller soll versuchen, bekannte Gedichte vor kleinen Gruppen besonders lebendig zu rezitieren. Dazu bedient er sich sinnlich wahrnehmbarer Hilfsmittel, die den Vortrag nicht nur hörbar, sondern auch fühlbar machen. Ziel ist es, dass die älteren Herrschaften die in ihrer Kindheit gelernten Verse erkennen und Verbindungen zwischen den Gedichten und erlebten Situationen herstellen. Durch gezielte Fragestellungen forscht der Poet nach Bildern in der Biografie der Senioren, zu denen sie eine emotionale Verbindung haben. Aus den gesammelten Eindrücken und Erinnerungen, die alle Anwesenden nennen, improvisiert er am Ende der Lesung ein Gedicht. jetzt.de: Also ist der Slam nicht nur zur Kritik sondern auch zur Weltverbesserung gut? Simon: Auf jeden Fall. Poesie ist für mich Sozialkritik, Ausdruck von Gefühlen, eigenen Ansichten und Erfahrungen, Selbsttherapie und Meditation in einem. Poetry Slam ist nicht nur Unterhaltung und „Dampfplauderei“, sondern auch eine Plattform, um seine Meinung zu äußern, Kritik am System und der Regierung zu üben und auf kreative Art und Weise Werte und Meinungen zu vertreten und anderen mitzuteilen. Gerade durch die voranschreitende globale Vernetzung und die Ausbreitung des World Wide Webs kann man durch Poetry Clips und Videomitschnitte viele Menschen weltweit erreichen. Allein wenn man es schafft, dem Publikum einen unterhaltsamen Poetry Abend zu bieten, hat man doch schon im Kleinen dazu beigetragen, dass die Welt ein winziges Stück „besser“ geworden ist, oder etwa nicht?

Text: ulrike-schuster - Foto: privat

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