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Keine Ausbildung und als einzige Hoffnung Musik: Punks in Moskau

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Sie sind so jung und so runtergerockt – Wasja, Oleg, Orhan, drei Jungs, drei Vorstadtpunks aus Moskau. Wo sie leben ist sogar das Nichts eng und beklemmend, sie vertreiben sich die Tage zwischen Plattenbauten und stillgelegten Gleisen oder unter dem Neonlicht der Hochhausflure. Kinder der Schlafviertel heißt der Film von Korinna Krauss und Janna Ji Wonders, beide 27 Jahre alt. Gerade 30 Minuten dauert das Portrait der Jungs, das die beiden Münchner Dokumentarfilmstudentinnen als Übungsfilm gedreht haben. Dafür macht er in der europäischen Dokumentarfilmlandschaft gerade ziemlich viel Lärm, lief auf Festivals in der Schweiz oder in Frankreich. Am Freitag läuft „Die Kinder der Schlafviertel“ auf dem Dokumentarfilmfestival in München. jetzt.de hat mit den Regisseurinnen gesprochen.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Ein Schlafviertel – was versteht man darunter überhaupt? Korinna: So nennt man in Moskau die verarmten Vororte. Morgens fahren die Leute von dort weg, um zu arbeiten. Abends kommen sie nach Hause, um zu schlafen. Etwas anderes gibt es dort auch nicht zu tun, das Maximum an Freizeitangebot ist der Supermarkt. Was heißt das für das Leben eines 18jährigen? Korinna: Wir können das höchstens für die Jungs sagen, mit denen wir zu tun hatten. Aber grundsätzlich gibt es überhaupt keine Angebote, wo sie wohnen. Die wenigsten von ihnen besitzen eine Ausbildung, üblich ist, dass man gleich nach der Schule arbeiten geht und Geld verdient. Die meisten arbeiten in Fabriken, wo sie auch jederzeit wieder raus geschmissen werden können. Janna: Bei den Jungs in unserem Film kommt allerdings hinzu, dass sie ihre Ängste und Perspektivlosigkeit kreativ verarbeiten – sie machen Musik und verwirklichen sich wenigstens darin. Sie könnten ja auch einfach gar nichts machen.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Im Herbst 2004 verbrachten Janna und Korinna drei Wochen in Moskau – auf dem Konzert einer deutschen Punkband in Berlin hatten sie die russische Vorband kennen gelernt und danach eine Zeit lang auf Tour begleitet. Sie verstanden sich so gut mit den Mitgliedern, dass sie beschlossen, einen Film über deren Leben zu Hause zu drehen. Mit einem Übersetzer und einem Kameramann machten sie sich auf den Weg nach Moskau und erlebten gleich bei der Ankunft eine Überraschung: „Wir hatten eigentlich schon von München aus ein Quartier organisiert. Aber als wir ankamen, wurden wir von einem Wagen voller Punker abgeholt. Sie meinten, wir sollten jetzt mit ihnen mitkommen. Letztendlich haben wir dann fast die gesamte Drehzeit zu viert in Wasjas Zimmer gewohnt“, erinnern sich Janna und Korinna. Wasja ist der 17jährige Sänger der Punkband Tanzilit. Ein hübscher, schmaler Junge mit einem blauen Irokesenschnitt, der Wodka wie Sprite trinkt. Einer seiner besten Freunde ist ein russischer Nazi, der andere ist Kaukasier und damit Teil jener Minderheit, die in Russland besonders extrem diskriminiert wird. Gemeinsam spielen die Jungs tagsüber Lieder über Liebe nach der atomaren Katastrophe und betrinken sich nachts in den Treppenhäusern ihrer Hochhaussiedlung. Es gibt sonst keinen Ort, wo sie hin könnten. Wasjas Onkel meint im Film, dass es der Jugend so schlecht gehe wegen dem Ende der Sowjetunion – die Disziplin, die Jungpioniere, die Ordnung, alles fort. Habt ihr unter den jungen Menschen vor lauter Perspektivlosigkeit auch eine Art Sehnsucht nach der Vergangenheit gespürt? Korinna: Einer der Jungs meinte einmal, in der Sowjetunion wäre das Leben wohl einfacher gewesen, weil man sich damals nicht so viele Gedanken machen musste. Aber das waren eher theoretische Überlegungen – er hat es ja selbst nicht wirklich gekannt. Wasja ist Punk aus Überzeugung – und arbeitslos. Als sich seine Großmutter im Film darüber beklagt, zuckt er nur die Schultern und raunzt sie an, dass sie sich nicht so haben soll: „Wenn ich nichts mehr zu essen habe, verkaufe ich einfach unseren Kühlschrank und den Fernseher. Oder ich geh` eben in der U-Bahn betteln. Das ist doch auch eine Möglichkeit.“ Sein größter Wunsch aber ist es, von der Musik leben zu können. Was unterscheidet diese Jungs von einer Punkerclique in Frankfurt? Korinna: Im Gegensatz zu Westeuropa ist die Punkbewegung Russlands ziemlich jung, es gibt sie erst seit etwa zehn Jahren. Und - das gilt zumindest für ‚unsere’ Punks – besonders politisch sind sie auch nicht. Dafür ist ihre persönliche Situation auch zu bedrückend. Janna: Es ging uns aber auch gar nicht darum, ein Punkportrait oder einen Generationenreport zu drehen. Es ging uns schon genau um diese Jungs. Woran merkt man, wen man gerne in seinem Dokumentarfilm haben will? Korinna: Naja in erster Linie, wenn jemand interessante Dinge tut oder ein besonderes Leben führt. Ein gewisses Maß an Reflektiertheit ist aber auch ganz wichtig. Das haben wir bei Orhan und Wasja alles gefunden und deswegen stehen sie im Mittelpunkt des Films. Janna: Eigentlich ist es ähnlich wie bei einer Freundschaft: Manche Leute haben eine stärkere Wirkung auf einen und man will einfach immer mehr von ihnen wissen.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Kein Punkportrait, kein Generationenreport: Was ist „Kinder der Schlafviertel“ für ein Film? Korinna: Er ist die Geschichte einer Jugend, die perspektivlos in einer Betonwüste verloren geht. Janna: Gleichzeitig ist das Besondere an unseren Protagonisten ja, dass sie sich zumindest bewegen – in den engen Grenzen die ihnen gesteckt sind. Deswegen haben wir uns auch für sie entschieden. Wir zeigen einfach einen kleinen Ausschnitt aus dieser Realität – so wie wir sie persönlich erlebt haben, mit den Eindrücken und der Stimmung die sie bei uns hinterlassen hat. Korinna: Wenn wir eine Generationenreportage gemacht hätten, dann hätten wir Zahlen und Experten auspacken müssen. Wir wollten aber, dass die Leute uns selbst erzählen, wie sie sind. Wir müssen nicht denen erzählen, wie wir sie sehen. „Kinder der Schlafviertel“ läuft am Freitag, den 5. Mai um 17.00 im Vortragssaal im Gasteig in München. Mehr Informationen unter dokfest-muenchen.de

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