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Kein Gutmensch, eine Dienstleisterin
Jetzt.de: Nina, du definierst Sexualassistenz als „eine bezahlte sexuelle Dienstleistung für Menschen mit einer Beeinträchtigung.“ Unter erotischen Diensten für Geld versteht man gewöhnlich Prostitution… Nina de Vries: Ich nehme Geld für meine Arbeit, daraus mache ich keinen Hehl. In diesem Sinne könnte man von Prostitution sprechen. Sexualassistenz ist jedoch mehr als nur Erfüllung körperlicher Wünsche, wobei es nicht ausgeschlossen ist, dass ich meine Klienten zum Orgasmus bringe. Die Befriedigung allein steht jedoch nicht im Vordergrund. SexualassistentInnen lassen sich auf den Klienten als Mensch ein, nicht nur als „Kunde“ oder als „Behinderter“. Genau das, was in der „normalen“ Prostitution oft vermieden wird. Wobei ich aber unterstreichen möchte, dass es viele Prostituierten gibt, die eine positive und heilende Arbeit machen. Fehlt es an Prostituierten, die mit Behinderten umgehen können? Nicht unbedingt. Sexuelle Dienstleistungen gibt es in fast jeder Form. Es gibt Bordelle mit Rollstuhlzugang und Prostituierte, die sich auf körperlich Beeinträchtigte spezialisiert haben. Nur wenige nehmen sich jedoch Menschen mit starken geistigen Behinderungen an. Denn in diesen Fällen ist es mit reiner körperlicher Befriedigung nicht getan, man muss sich mit Angehörigen und Betreuern absprechen und persönlichen Zugang zu jedem Klienten suchen. Menschen, mit denen ich arbeite, sind oft schwerst mehrfach behindert, manche können sich nicht verbal äußern. Sie können ihr sexuelles Verlangen oft nicht einordnen, können sich nicht selbst helfen und leiden drunter. Manchen bringe ich bei, wie man masturbiert. Die Betreuer können ihnen ja nicht einfach ein Video zeigen und sagen: So wird’s gemacht. Das können manche nicht rückkoppeln. Wie darf man sich deine Arbeit vorstellen? Ich halte seit Jahren Vorträge und leite Workshops. Ich berate auch die Angehörigen und das Heimpersonal, gebe erotische Massagen, streichele und umarme meine Klienten, bin zusammen mit ihnen nackt. Wenn sie das wünschen, befriedige ich sie mit der Hand oder zeige ihnen, wie das geht. Küssen sowie Oral- und Geschlechtsverkehr biete ich nicht an. Nicht weil ich das schlecht oder unmoralisch finde, sondern, weil ich das nicht möchte. Es ist aber meine persönliche Grenze, es gibt Sexualassistentinnen, die das tun. Unterscheidet sich die Sexualität geistig beeinträchtigter Menschen von unserer? Sie ist viel konzeptloser. Bei uns findet ein Großteil der Sexualität im Kopf statt: Es sind Bilder, Vorstellungen und Geschichten, die uns anmachen. Eine Berührung ist nicht an sich erregend, sondern im Zusammenhang mit der Umgebung und dem Menschen, der uns berührt. Viele Menschen mit einer so genannten schwerer geistigen Behinderung haben solche Konzepte nicht: Sie sind oft mehr in Kontakt mit ihrer unmittelbaren sinnlichen Wahrnehmung. Sie riechen, schmecken und tasten und benutzen das Gegenüber weniger als Projektionsfläche. Ist Sexualität ein Grundbedürfnis wie Nahrung oder ein Dach über dem Kopf? Nicht für alle und im unterschiedlichen Maß. Wie stark das Verlangen ausgeprägt ist, ist von Mensch zu Mensch verschieden, das gilt für Behinderte genauso wie für Nicht-Behinderte. Für manche ist es tatsächlich ein existentielles Bedürfnis. Viele sehen Behinderte jedoch nicht als sexuelle Wesen an. Das ist falsch. Die Betreuung darf sich nicht darauf beschränken, dass sie satt und sauber bleiben. Die Kosten für deine Sitzungen werden nicht von der Krankenkasse übernommen. Das ist auch richtig so: Sexualität geistig beeinträchtigter Menschen ist schließlich keine Krankheit. Der richtige Ansatz wäre, sie für ihre Arbeit in den Werkstätten gerecht zu bezahlen. Oder ihnen ein angemessenes Grundbudget zu Verfügung zu stellen, wovon sie, oder ihre Betreuer, etwas für die Sexualassistenz verwenden können. In der Regel bekommen sie 80 Euro Taschengeld, meine Dienste kosten aber zwischen 80 und 120 Euro. 120 Euro – ist das viel oder wenig? Kommt drauf an. Für die Klienten ist es eine Menge Geld. Auf dem Markt für erotische Dienste sind 120 Euro ein guter Preis für einen Hausbesuch. Man muss aber auch bedenken, dass ich viel Vor- und Nachbereitungszeit brauche - mit der Sitzung an sich ist es nicht getan. Um reich zu werden, ist Sexualassistenz nicht der richtige Beruf. Man muss schon die Arbeit an sich mögen. Und das tust du? Ja. Du brauchst nicht so verwundert zu gucken, mir macht es tatsächlich viel Spaß. Nicht im sexuellen Sinne, aber weil ich diese intensiven Begegnungen schätze, weil ich mich herausgefordert fühle. Nur aus diesem Antrieb kann diese Arbeit funktionieren. Wenn ich SexualassistentInnen ausbilde und sich Leute bewerben, gibt es zwei Gruppen, die ich nach Hause schicke: Diejenigen, die nur hinter dem Geld her sind und, fast noch schlimmer, die Gutmenschen. Warum? Weil die meistens an ihrem eigenen Anspruch scheitern. Sie können sich nicht eingestehen, dass sie unsicher im Umgang mit Behinderten sind, dass sie sich auch ein bisschen fürchten oder mit gewissen Situationen nicht umgehen können. Niemand ist locker, wenn es um Sexualität geht. Niemand. Es bringt aber nichts, seine Unsicherheit und Verkrampftheit zu vertuschen, nur weil man glaubt, dass man immer nett zu Behinderten sein zu muss. Das gilt auch im Alltag: Man muss den Mut haben, befangen zu sein. Und bitte das Helfersyndrom ablegen! Natürlich hat man als „normaler“ Mensch mehr Chancen in dieser Gesellschaft, das sollte jedem bewusst sein. Aber nur wenn man aus der Aufopferungsrolle rauskommt, ist Umgang auf gleicher Augenhöhe möglich. Umfangreiches Infomaterial über die Arbeit von Nina de Vries gibt es unter nina_devries@web.de