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Interview mit einer Fachanwältin für Strafrecht
Jordana Wirths ist Fachanwältin für Strafrecht und als Strafverteidigerin in der Kanzlei Dr. Birkenstock in Köln tätig. Sie vertritt unter anderem Beschuldigte und Angeklagte, denen Sexualstraftaten zur Last gelegt werden.
jetzt: Wie beginnt ein Vergewaltigungsprozess für Sie?
Jordana Wirths: Jeder Fall ist anders. Entweder der Mandant – in den allermeisten Fällen sind das Männer – kontaktiert mich, nachdem die Polizei ihn zur sogenannten „Beschuldigtenvernehmung“ geladen hat. Oder wir werden nach einer Verhaftung durch Verwandte oder durch den Mandanten aus der JVA mit der Verteidigung beauftragt. Letzteres ist im Sexualstrafrecht nicht ungewöhnlich. Bei einem dringenden Tatverdacht werden wegen Straftaten, die einen sexuellen Hintergrund haben, relativ viele Haftbefehle erlassen und vollstreckt. In beiden Fällen rate ich zunächst immer dazu, keine Angaben zur Sache zu machen, bis mir als Verteidigerin Einsicht in die Ermittlungsakte gewährt worden ist.
Warum?
Ohne die Einsicht in die Ermittlungsakte ist mir als Verteidigerin nicht bekannt, was genau dem Mandanten vorgeworfen wird. Es ist mir also unmöglich zu bewerten, wie die Beweislage ist, was der Anzeigenerstatter oder die Anzeigenerstatterin behauptet hat. Abgesehen von so prominenten Fällen wie der Silvesternacht am Kölner Hauptbahnhof sind in Fällen, in denen es um Sexualstraftaten geht, oft nur zwei Personen beteiligt. Eine Person zeigt die andere Person wegen eines sexuellen Übergriffs an. Das heißt aber gleichzeitig, dass nur diese zwei Menschen wissen, was – und ob überhaupt etwas – vorgefallen ist. Ich habe also schon erlebt, dass Mandanten mit einer Ladung zur Beschuldigtenvernehmung wegen sexueller Nötigung in die Kanzlei kommen, und überhaupt nicht wissen, worum es gehen soll. Ich rate übrigens jedem dringend davon ab, ohne Anwalt in eine solche Vernehmung zu gehen.
Weil man sich sonst schnell selbst belastet?
Meiner Erfahrung nach ist es so: Begibt sich eine unverteidigte Person zu einer polizeilichen Vernehmung, weiß sie in der Regel nicht, was dort geschehen wird und mit welchen Vorwürfen man sie konfrontieren wird. Die Menschen machen dort dann oft Angaben, die sie später bereuen. Das liegt unter anderem daran, dass aus Nervosität Dinge gesagt werden, die man keinesfalls gesagt hätte, wenn man in seiner gewohnten Umgebung gewesen wäre. Außerdem werden Aussagen meistens nicht wortwörtlich niedergeschrieben. So können Missverständnisse in die Akte gelangen, die dann nur noch schwerlich richtigzustellen sind. Nicht selten habe ich außerdem leider den Eindruck, dass es bei den Vernehmungsbeamten an der erforderlichen Objektivität fehlt und vermeintlichen Opfern zu voreilig ungeprüft Glauben geschenkt wird.
"Trotz Unschuldsvermutung tendiert die Öffentlichkeit allzu oft dazu, den Beschuldigten als Täter oder gar Monster abzustempeln"
Wie schaffen Sie Klarheit?
Ich hole die Ermittlungsakten und bespreche deren Inhalt danach ausführlich mit meinem Mandanten, entweder in unseren Kanzleiräumlichkeiten oder in der JVA. Das ist ein sehr wichtiger Teil meiner Arbeit. Ein Verteidiger sollte den Inhalt einer Akte nach dem Aktenstudium „singen“ können. Im Laufe der Ermittlungen kann dann eigentlich alles passieren. Pauschalisieren kann man das nicht, denn jeder Fall ist anders. Die Beweislage kann für den Mandanten gut, sie kann aber auch schlecht sein. Es kann sein, dass man einen schuldigen Mandanten verteidigt. Oder einen unschuldigen. Gerade in letzterem Fall bricht für den Beschuldigten eine Welt zusammen – ganz besonders bei Vorwürfen wegen sexueller Nötigung oder Vergewaltigung.
Was fürchtet ein Beschuldigter?
Dass die Vorwürfe öffentlich gemacht werden. Dass das Umfeld ihn ächtet. Dass er Beruf, Ansehen und Familie verliert. Was in vielen Fällen auch geschieht – zum Glück aber nicht immer. Ein derartiger Vorwurf kann ein Leben aber regelrecht ruinieren.
Was passiert medial?
Meine Erfahrung ist – und damit stehe ich wohl nicht allein –, dass sich die Bevölkerung und die sozialen Medien sehr schnell mit dem Opfer solidarisieren und voreilig alles das glauben, was in den Medien berichtet wird. Trotz Unschuldsvermutung tendiert die Öffentlichkeit leider allzu oft dazu, den Beschuldigten als Täter oder gar Monster abzustempeln. Das finde ich fatal. Denn niemand außer den Verfahrensbeteiligten kennt den genauen Ermittlungsstand. Der scheint den „interessierten Bürger“ aber leider meist nicht wirklich zu interessieren.
Aber der eigentliche Prozess folgt ja noch.
Die Bevölkerung, die oft voreilig Schlüsse zieht, berührt es später zumeist weniger, wenn der einstige Beschuldigte oder Angeklagte freigesprochen oder nicht einmal angeklagt wird. Der „Täterstempel“ bleibt haften, gerade bei Personen die wegen einer Sexualstraftat beschuldigt oder angeklagt waren. Werden sie freigesprochen oder nicht angeklagt, hält man die Justiz für zu „lasch“ oder für unfähig.
"Eine absolute Sicherheit wird es niemals geben, wenn keine weiteren Beweismittel vorhanden sind"
Ist das immer so einseitig?
Ich habe nur relativ wenige Fälle im Sexualstrafrecht erlebt, bei denen das soziale Umfeld uneingeschränkt zu dem Beschuldigten oder Angeklagten hält. Auch bei einem Freigesprochenen merkt man ja gern vielsagend an: „Man weiß ja nie …!“ Eine vollständige Rehabilitation des Beschuldigten oder Angeklagten ist mit einer solchen Einstellung aber schwierig – wenn nicht gar unmöglich. Manche Menschen sollten sich dann einfach mal die Frage stellen: Was wäre, wenn ich einmal unschuldig einer Straftat verdächtigt werde?
Was kann man dagegen tun?
Bei einer medialen Vorverurteilung geben wir entsprechende Statements ab oder versuchen, die Berichterstattung juristisch anzugreifen. Hier beauftragen wir, beziehungsweise unsere Mandanten auf unsere Empfehlung hin ausgewiesene Medienrechtler.
Was tun Sie, wenn es zum Prozess kommt?
Auch hier kann ich nichts Pauschales sagen. Wenn mein Mandant die Beschuldigungen abstreitet, ist es meine Aufgabe, Ungereimtheiten in den Akten zu beleuchten, Widersprüche im Aussageverhalten von Belastungszeugen aufzudecken und gegebenenfalls Spurenlagen anzuzweifeln. Es gibt Fälle, in denen man nachträglich belegen kann, dass nicht einmal ein behauptetes Treffen zum angeblichen Tatzeitpunkt stattgefunden hat. Hierzu müssen wir dann Beweise benennen, Anträge stellen.
Wie sieht das konkret aus?
Wenn es zum Beispiel Widersprüche in der Schilderung der Anzeigenerstatterin oder des Anzeigenerstatters gibt, beantragen wir zumeist die Erstattung eines Glaubwürdigkeitsgutachtens. Liegt ein solches schon vor und ist aus unserer Sicht nicht schlüssig, dann beauftragen wir wiederum eigene Sachverständige mit der Überprüfung dieser Gutachten. In solchen Fällen arbeiten wir in unserer Kanzlei mit sehr renommierten Sachverständigen.
Glaubwürdigkeitsgutachten sind also oft wackelig?
Auch ein Psychologe schaut einem Menschen nur vor und nicht in den Kopf. Eine absolute Sicherheit wird es meines Erachtens in einem Fall, in dem der Beschuldigte bestreitet und das Opfer eine Straftat in der von mir skizzierten „Zweiersituation“ behauptet, niemals geben, wenn keine weiteren Beweismittel vorhanden sind.
Welche anderen Möglichkeiten gibt es?
Zum Beispiel medizinische Sachverständigengutachten. Diese bewerten etwa, ob Verletzungen mit den Angaben des Zeugen oder der Zeugin zur Tat übereinstimmen. Dabei finden sich letztlich auch immer wieder Unstimmigkeiten, die dann von den Psychologen mitberücksichtigt werden müssen. Es gibt auch Fälle, in denen sich Gutachter nicht einig sind. Bei medizinischen Gutachten ist das aber eher seltener der Fall.
Etwa 70 Prozent der Verfahren werden nach Abschluss der Ermittlungen eingestellt. Das trifft aber keine konkrete Aussage über das, was tatsächlich passiert ist, richtig?
Korrekt. Eingestellt wird mangels hinreichenden Tatverdachts. Das heißt, dass es die Staatsanwaltschaft „nicht für hinreichend wahrscheinlich hält“, dass das Gericht auch verurteilen wird. Die Staatsanwaltschaft bewertet das Ergebnis der Ermittlungen nach deren Abschluss. Dabei gibt es selten eine absolute Sicherheit. Es sei denn, es liegt ein glaubhaftes Geständnis des Beschuldigten vor, das mit dem Ergebnis der Ermittlungen vereinbar ist. In Situationen, in denen Aussage gegen Aussage steht, geht es schlicht um juristische Wahrscheinlichkeiten und Bewertungen. Bei einer Einstellung (gemäß Paragraf 170 Absatz 2 StPO) kann die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen jederzeit – wenn die Tat dann nicht verjährt ist – wieder aufnehmen, etwa wenn neue Beweise auftauchen, die für einen hinreichenden Tatverdacht sprechen.
Wie entscheiden Sie persönlich, wem sie glauben und wem nicht?
Ich bewerte zum einen das, was mir der Mandant berichtet. Als Verteidigerin lerne ich den Menschen, der beschuldigt oder angeklagt wird, natürlich viel besser kennen als der Staatsanwalt oder der Richter, der ihn letztendlich nur auf der Anklagebank sieht. Und natürlich kann ich als Mensch nicht verhindern, dass ich mich bei meiner Einschätzung auch von meinem „Bauchgefühl“ leiten lasse. Zum anderen bewerte ich das Ergebnis der Ermittlungen und die objektiven Fakten, die im Laufe des Verfahrens von Staatsanwaltschaft und Verteidigung zusammengetragen worden sind. Dieses Ermittlungsergebnis ergibt sich aus dem Inhalt der Ermittlungsakte. Während eines Mandatsverhältnisses bespreche ich all das oft viele Male mit meinem Mandanten. Wenn mir ein Mandant auf Basis einer soliden Beweislage etwas glaubhaft erzählt, also wenn seine Angaben mir gegenüber dem objektiven Ermittlungsergebnis entsprechen, dann glaube ich ihm auch.
"Der Grundsatz „Nein heißt Nein“ ändert nichts an den Beweisschwierigkeiten"
Haben Sie Verständnis dafür, dass das gegenwärtige gesellschaftliche Klima sich eher auf die Seite der möglichen Opfer schlägt? Weil die Frauen sich eben massivem Zweifel und erniedrigenden Gutachten ausgesetzt fühlen?
Fälle, an denen ich nicht persönlich als Verteidigerin tätig werde, bewerte ich nicht und schon gar nicht ungefragt. Sich pauschal und ohne Kenntnis des Einzelfalls auf eine Seite zu schlagen, erachte ich für nicht richtig. Es gibt eben auch in diesen Fällen immer mal wieder Menschen, die Behauptungen aufstellen, die sich später als falsch erweisen. Aber es gibt sicherlich auch Fälle, in denen man unberechtigter Weise einem wahren Opfer nicht glaubt. Das ist natürlich sehr tragisch – gerade für die oder den Betroffenen. Das ist niemandem zu wünschen.
Aber?
Aber eben leider auch nicht zu ändern. Die Unschuldsvermutung beziehungsweise unser Rechtsstaatsprinzip gebieten es, dass man genauestens prüft. Diese Maßnahmen müssen ergriffen werden. Wobei ich aber Wert darauf lege, dass einem Opfer, soweit ich einen Mandanten verteidige, der ein Geständnis abgibt, diese Torturen erspart bleiben. Wenn es das Gericht dann nicht mehr für erforderlich erachtet, verzichten wir in solchen Fällen natürlich darauf, das Opfer nochmals vor Gericht anzuhören. Auch eine Begutachtung kann dann unterbleiben. Aber wenn ein Zweifel besteht, gibt es juristisch gesehen leider keinerlei Alternative zu diesem schmerzhaften Weg.
Kann man von traumatisierten Opfern überhaupt erwarten, sich an die Tat genau genug zu erinnern?
Das weiß ich natürlich nicht aus eigener Erfahrung. Ich bin glücklicherweise noch kein Opfer irgendeiner Straftat geworden. Ich bin auch keine Psychologin. Aber wir erwarten im Strafprozess nun einmal, dass sich ein Opfer erinnert, wenn es bei Bewusstsein war. Ich habe auch einen Fall erlebt, in dem eine Frau nach einer jahrelangen Ehe in einem Sorgerechtsstreit um das gemeinsame Kind behauptet hat, dass es im Rahmen der Ehe vergewaltigt worden ist. Der Mandant hat dies in diesem Fall vehement bestritten. In einem solchen Fall muss ich als Verteidigerin erwarten, dass exakt berichtet wird. Hier gibt es nämlich keine anderen Beweise.
Wie könnte man diese Verfahren verbessern, gerade im Sinne von "weniger schmerzhaft" für die Anklägerin? Ist ein „Nein heißt nein“ angebracht?
Der Grundsatz „Nein heißt Nein“ ändert nichts an den Beweisschwierigkeiten. Wenn nämlich das vermeintliche Opfer sagt: „Ich habe nein gesagt!“ und der vermeintliche Täter sagt: „Das hat sie nicht!“, dann wird man – abgesehen von Fällen in denen es einen Videobeweis gibt (wie es im Fall Gina-Lisa Lohfink der Fall sein soll) oder unabhängige Zeugen – nie wissen, was tatsächlich stimmt. Und das ist in den meisten Prozessen schließlich auch das Kernproblem.
Führen wir da also eine Scheindiskussion?
Wenn Politik und Presse den Slogan „Nein heißt Nein“ verwenden, dann hört sich das für die Allgemeinheit zumindest so an, als ob „endlich was geschieht.“ Tatsächlich ist dies meines Erachtens aber Augenwischerei. Ich meine, dass „Nein heißt Nein“, so wie es derzeit diskutiert wird, in unserem Sexualstrafrecht wegen der Beweisschwierigkeiten keine Änderung bewirken wird. Änderungen halte ich auch eigentlich nicht unbedingt für dringend erforderlich. Jedenfalls nicht in dieser Form, weil unser Strafrecht auch diese Fälle abdeckt – aber ich bin auch kein Gesetzgebungsorgan. Reformbedürftig ist für mich am ehesten der Begriff „Ausnutzung“ in Paragraf 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB. Dieser Begriff ist sehr unbestimmt und könnte wohl konkreter gefasst werden.
Sie würden also sagen: Unser System funktioniert?
Das deutsche Strafsystem ist weltweit eines, das wohl am besten und „objektivsten“ funktioniert. Aber es kann immer zu Fehlurteilen kommen – ein Unschuldiger wird verurteilt, oder ein Schuldiger freigesprochen. Das lässt sich meines Erachtens nicht vermeiden. Deshalb würde ich auch niemals Richterin sein wollen. Man entscheidet letztendlich über das weitere Leben eines Menschen. Und zwar im Falle von „Aussage gegen Aussage“ in einer Zweiersituation ohne eine endgültige Sicherheit zu haben.