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Ich wollte Soap und Opera

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Foto: Michael Farin/rowohlt Inwiefern ist das Tagebuch-Ich Helmut Krausser? So gut es die eigene Eitelkeit zulässt. Ziemlich denke ich. Ja. Sie schreiben im Vorwort zum Mai-Tagebuch, üblicherweise kein Tagebuch geführt zu haben. Wie kam es dann doch dazu und weshalb in dieser Form? Angst. Angst vor dem Vergessen. Mit 28 konnte ich mich zum ersten Mal an gewisse Menschen nicht mehr recht erinnern. Außerdem war ich stets zu faul gewesen, um ein Tagebuch zu führen. Jetzt wollte ich mich mal disziplinieren. Wenigstens einen Monat lang. Wie funktioniert das dann, setzt man sich plötzlich hin und schreibt und nach dem Tagebuchmonat ist auch sofort wieder Ende mit Tagebuch? Ja, ich war jedes Mal heilfroh. Man muss ja etwas Interessantes abliefern. Schrecklich die Vorstellung, der Verlag könne das Interesse verlieren und dir irgendwann sagen: sorry, aber das bringt’s einfach nicht mehr. Schwach finde ich den Juli, die Zeit meines Alkoholproblems und den Januar (war zuwenig los). Beide Male hab ich gedacht, na, da müsste man aber noch was nachbearbeiten, aber ich habe mich dagegen entschieden. Selbstverständlich bin ich nochmal über den Satzbau gegangen, aber inhaltlich hat sich nie mehr was verändert. Sind die Notizen dann immer im jeweiligen Monat entstanden oder gab es bereits fertige Skizzen, die den Einfluss ins andere literarische Werk nicht fanden und stattdessen im Tagebuch erschienen sind? 99 Prozent sind an dem und jenem Tag entstanden. Manchmal habe ich einen Artikel mit reingenommen, der schon eine Woche alt war, wie der aus dem FOCUS über Heiner Link, meistens habe ich das dann vermerkt. Aber klar gibt es hier und da ein paar Sprüche, die nicht in Romanen oder Gedichten zu verwerten waren, die bekamen dann einen Platz im Tagebuch, irgendwo hab ich sinngemäß geschrieben, das Tagebuch sei auch eine Notunterkunft. Einmal wurde versehentlich ein Absatz über eine Go-Betweens-Platte zum zweiten Mal verwendet. Da wurde wohl ein Blatt in den falschen Haufen geweht und niemand hat es gemerkt. Besonders in den ersten Tagebuch-Bänden scheint es, als haben Ernst Jüngers Tagebücher wie eine formale Vorlage funktioniert. Haben Sie sich bewusst daran orientiert? Gar nicht. Naja, vielleicht doch. Unterbewusst. Ich habe während des Tagebuchschreibens immer einen anderen Tagebuchschreiber gelesen und vielleicht so ein wenig von dessen Stil assimiliert, anfangs war das Jünger, später Kafka, Hebbel, Amiel, Montherlant. Alles, was ich lese, beeinflusst mich. Jünger war nur ein Vorbild. Das andere war Samuel Pepys (Ein englischer Flottenadministrator, der in seinen unterhaltsamen Tagebüchern das Leben im England des 17. Jahrhunderts dokumentiert. Pepys berichtet darin über politische Themen ebenso, wie über seine Ehe, seine Affären oder banale Geschehnisse. Eine Auswahl aus seinen Tagebucheinträgen ist im vergangenen Jahr, in einem sehr schönen, von Roger Willemsen und Volker Kriegel herausgegebenen Band, bei Eichborn erschienen: „Samuel Pepys. Die geheimen Tagebücher“). Jünger hat nur Gewichtiges aufgeschrieben, Philosophisches oder Ästhetisches. Privates selten und nur, wenn es sozusagen von historischem, psychologischem oder zoologischem Interesse war. Pepys hat alles aufgeschrieben, bis ins letzte intime oder banale Detail. Ich wollte eine Mischung aus beiden. Soap und Opera. Und nun ist das Projekt zu Ende. Was hat es ihnen bedeutet? Anfangs war es eine Waffe, später eine Last. Es war genau zum richtigen Zeitpunkt beendet, bevor es an Kraft durch Wiederholungen verloren hätte. Ich habe mir viele Feinde deswegen gemacht, aber ich bin stolz darauf, vor allem auf die Monate August, November, Februar und April, um meine persönlichen Highlights zu nennen. War das Tagebuch auch Hilfestellung für die Entstehung anderer Werke? Als Meditationsort sicher. Ich habe nur hier meine Zweifel und Sorgen bezüglich kommender oder in Arbeit befindlicher Texte aufgeschrieben. Und etwas aufschreiben unterscheidet sich deutlich vom Nur-Darüber-Nachdenken. Was macht für Sie ein gutes Tagebuch aus? Dass es einen Blick für den Makro- wie den Mikrokosmos besitzt und fähig ist, aus allem was passiert in angemessener Weise die Essenz zu ziehen. Kleines nicht aufbauscht und Großes nicht herabwürdigt oder banalisiert. Ehrlichkeit ist wichtig, auch wenn es dadurch manchmal peinlich wird, oder peinlich zu werden scheint. Ich glaube, man muss nicht alles über sich offenbaren, aber in den Bereichen, die man zulässt, sollte man gnadenlos ehrlich sein, vor allem zu sich selbst. So habe ich mich auch manchmal gefeiert und gelobt, wie man es eigentlich nur heimlich tun sollte. Aber zum Beispiel, die Nacht als ich mit UC fertig wurde, meinem besten Buch - diese Freude, dieser Rausch - das hat kaum noch wer so 1:1 dargestellt. Das Tagebuch wird in wissenschaftlicher Literatur als eine der Moderne gemäße Gattung bezeichnet. Denken Sie, dass Tagebuchliteratur in der Zukunft noch mehr Zuwachs erleben wird? Tagebuch kann jeder, hat Reich-Ranicki mal gesagt. Das ist natürlich Quatsch. Ich halte es für eine sehr schwierige Gattung. Nehmen Sie Kafka. Genial, aber seine Tagebücher: schwach. Nein, nicht schwach - eben für sich selbst geschrieben. Seine äußerst flexible und zwanglose Form macht das Tagebuch aber zu einem idealen Ort der zweiten Wirklichkeit, der unmittelbaren Reflexion in all in ihren Facetten und sprunghaften Widersprüchlichkeiten. Die Gattung Tagebuch wird es länger geben als den Roman. Grundsätzlich zum Thema Literatur der Zukunft: Sie reflektieren in den Tagebüchern ja darüber, wie Literatur in multimedialen Zusammenhängen funktionieren kann. Denken Sie, dass da die Zukunft des Schreibens liegt? Vielleicht. Ich weiß es nicht. Wenn die Kultur der Verblödung so weitergeht, liest in 100 Jahren niemand mehr irgendwas. Aber sicher wird es mal das leichte Buch geben, das zugleich filmische, akustische und vielleicht sogar olfaktorische Zusatzreize liefert. Mit einem LCD-Schirm, der Papier so kunstvoll nachahmt, dass man gar nicht das Gefühl hat, auf einen Bildschirm zu starren. Das gibt es schon in zehn Jahren. Denken Sie, dass (Tagebuch-)Literatur und Internet kompatibel sind? Oder wie beurteilen Sie ihre Erfahrungen – sie haben ja selbst bei pool und Null mitgeschrieben - in dem Bereich? Blogs mit Texten sind auch nichts anderes als öffentliche Bibliotheken, in die jeder, der reindarf, auch einen Text hinterlegen und ins Archiv stellen kann. Aber im Endeffekt geht es immer um meist schwarze Zeichen auf meist weißem Grund. So. Ob man in den Sand schreibt oder in ein Buch oder ins Netz. Es steht da und ist gut oder nicht und eines Tages ist es weg.

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