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„Ich schlich ins Schlafzimmer meiner Mutter“

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jetzt.de: Deine Romanheldin, die England zunächst für L.A. verlässt, hat keinen Namen. Weil sie in der Geschichte einen Selbstfindungsprozess durchläuft – oder weil sie keinen Namen verdient?
Anna Stothard: Es ist ein Mix aus beidem. Sie selbst glaubt ja nicht mal daran, eine Identität zu besitzen. Sie ist dieses verstörte, umherirrende Ding, das nicht weiß, wo es hingehört. Als ich die erste Hälfte vom Buch geschrieben habe, hatte sie in meinem Kopf aber schon einen Namen.

Nämlich?
Das sage ich natürlich nicht. Sie bleibt Lilys Tochter, die sich über andere definiert. Niemand nennt sie bei ihrem Namen.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Wie die Heldin in ihrem Roman machte auch Anna Stothard einen interessanten Fund in den Privatsachen ihrer Mutter. 

In „Pink Hotel“ findet Lilys Tochter alte Liebesbriefe ihrer Mutter und geht ganz darin auf. Es heißt, dir sei etwas ganz ähnliches passiert…
Ja, das stimmt. Als ich 15 war, habe ich mich mal ins Schlafzimmer meiner Mutter geschlichen… 

Warum das?
Um Klamotten anzuprobieren. Ich muss dazu sagen, dass meine Mutter nichts mit Lily gemeinsam hat. Ich fand meine Mutter damals schon toll. Sie war immer so schön und glamourös, ging gerne auf Partys. Ich wollte am liebsten so aussehen und sein wie sie. Also schlich ich in ihr Schlafzimmer und ging an ihren Kleiderschrank. Darin fand ich eine Mappe, in der ich alte Zeugnisse von mir vermutete. Es waren aber keine Zeugnisse in der Mappe, sondern ausschließlich Liebesbriefe von einem Mann, der nicht mein Vater war. Ich habe sie alle gelesen. Es stellte sich heraus, dass er und meine Mutter sich trafen, während meine Eltern verheiratet waren.

Was ging beim Lesen der Briefe in dir vor?
Es waren wundervolle Briefe. Sie waren so schön geschrieben und auch noch lustig. Ich war absolut fasziniert.

Warst du nicht traurig darüber, dass deine Mutter sich mit einem anderen traf?
Ich erinnere mich ehrlich gesagt nicht an so ein Gefühl. Aber ich bin mir sicher, ich hatte es. Man muss ja traurig sein, wenn man so was liest. Aber ich war eben auch fasziniert. Auch weil da jemand an einen Menschen schrieb, den ich sehr gut zu kennen glaubte, der aber in den Briefen ganz anders beschrieben war. Irgendwie war es sogar schön, mal eine neue Seite an meiner Mutter kennenzulernen.

Und der Mann, der ihr schrieb?
Ich wollte ihn am liebsten treffen, er schrieb einfach so gut! Und auch, wenn das jetzt seltsam klingt, ich fand ihn irgendwie interessant. Das Verrückteste dabei war: Der Mann war Douglas Adams, der Autor von „The Hitch Hiker’s Guide to the Galaxy“, einem meiner Lieblingsbücher. Als Teenager habe ich dieses Buch geliebt. Und plötzlich waren da all diese handgeschriebenen Liebesbriefe von ihm im Schlafzimmer meiner Mutter!

Warum verarbeitest du 14 Jahre danach den Fund der Briefe im Schlafzimmer deiner Mutter in deinem Buch?
Weiß ich auch nicht. Oft kann man ja selbst nicht nachvollziehen, wie man auf bestimmte Dinge gekommen ist. Wahrscheinlich hat das alles sehr lange in mir geschlummert und irgendein Auslöser hat es wieder an die Oberfläche befördert.

Es heißt ja auch, eine Reise durch Nevada und Kalifornien hätte dich zum Schreiben von „Pink Hotel“ inspiriert. Wie muss man sich diese Reise vorstellen?
Ich war mit einer Freundin unterwegs. Wir hatten uns den alten, schon sehr verbeulten Wagen ihres Freundes geliehen, der die Reise gerade noch überstand. Zwei Wochen sind wir damit herumgefahren und haben im hinteren Teil des Wagens übernachtet. Es war toll!

Besonders L.A. schien es dir angetan zu haben – schließlich bist du gleich dageblieben.
Ja, auch wenn ich eigentlich nicht vorhatte, dort hinzuziehen. Wie die meisten Leute, die gerade mit der Uni fertig sind, wusste ich überhaupt nicht, was ich machen sollte. Ich wusste nur, dass ich nicht in England bleiben wollte.

Warum nicht?
Ich wollte mal was anderes sehen, ein bisschen was entdecken. Und ich hatte das Glück, dass meine Freundin gerade in einer ganz ähnlichen Situation war. Also sind wir zusammen nach Amerika. Zuerst allerdings nach New York. Wir haben uns dort für Jobs beworben, an denen wir eigentlich überhaupt kein Interesse hatten. Ich habe mich bei einem Hochglanz-Kunstmagazin vorgestellt, allein das Vorstellungsgespräch war schrecklich. Irgendwann kamen wir auf die Idee mit dem Roadtrip, an dessen Ende ich in einem Hotel in Venice Beach landete.

Das Hotel, das dem Buch seinen Namen gab, nehme ich an. Kannst du das Hotel ein bisschen beschreiben?
Es war vor allem extrem pink. Es sah billig aus und roch auch billig. Die Sonne knallte in die Zimmer und Flure, überall roch es nach heiß gewordenen Teppichen, Zigaretten und lange nicht ausgepackten Rucksäcken. Wir sind nachts angekommen, es fand gerade ein riesige Party statt, die sich über das gesamte Hotel bis auf das Dach erstreckte. Überall wurde getrunken und getanzt, Bongotrommeln schallten durch die Räume.

Die erste Szene in „Pink Hotel“...
Genau. Ich wollte eigentlich auch nicht lange bleiben, nur ein paar Tage. Daraus wurden zwei Jahre.

Wie lange hast du in dem Hotel gewohnt?
Nur eine Woche. Das Hotel hieß übrigens „Cadillac“. Danach bin ich nach Little Armenia in Hollywood gezogen. Dort habe ich mir ein Apartment mit einer älteren Dame geteilt, in einem gigantischen Haus, das aussah wie eine Burg in Disneyland. Es gab sogar eine Wasserfontäne davor, typisch L.A. Und es war schon seltsam: Ich lebte in dieser krassen Kulisse, und um mich herum unzählige Häuser mit winzigen Wohnungen, in die sich teils zehnköpfige armenische Familien quetschten. An den Wochenenden fanden oft armenische Hochzeiten statt, endlose Partys, die den gesamten Stadtteil einnahmen und mit Konfetti bedeckten.

Wann hast du beschlossen, ein Buch über das Leben in dieser Stadt zu schreiben?
Ich glaube, ich hatte schon bei meiner Ankunft die Idee, über L.A. zu schreiben. Vielleicht noch nicht in der ersten Nacht, aber je länger ich mich in Venice Beach aufhielt, desto mehr entwickelte ich eine Geschichte. Venice Beach an sich ist ja schon randvoll mit Geschichten. Alle kommen nach Venice Beach um etwas zu werden und möglichst groß raus zu kommen. Die meisten wollen natürlich Schauspieler, Drehbuchautoren oder Regisseure werden und laufen ständig mit irgendeinem Skript unter dem Arm herum, nur für den Fall, dass sie gleich die ganz große Karriere starten könnten.

Hast du diesen Lebensstil selbst verinnerlicht? Hast du dich angepasst?
Im ersten Jahr habe ich alles noch relativ objektiv betrachtet. Aber dann hat mich die Stadt aufgesogen, langsam, aber sicher, und am Ende des zweiten Jahres musste ich erschrocken feststellen, dass ich schon viel zu tief drinsteckte.

Wie hat sich das geäußert?
Ich habe zu der Zeit in der Nähe vom „Pink Elephant“ gewohnt, Charles Bukowskis Lieblingsgetränkeladen. Eines Tages lief ich daran vorbei und sah, dass die Straße rund um den Laden mit Tapeband abgeklebt war und überall Polizisten standen. Ich dachte in dem Moment überhaupt nicht darüber nach, dass etwas Schreckliches passiert sein könnte. Ich dachte, die drehen da gerade „C.S.I.“, und dass ich am Filmset vielleicht ein paar Kontakte knüpfen könnte. Als ich später hörte, dass jemand brutal ermordet und sein Körper in winzigen Einzelteilen über die gesamte Nachbarschaft verteilt worden war, wusste ich: es ist Zeit! Ich muss Los Angeles verlassen. Das habe ich dann auch bald gemacht und bin zurück nach England gegangen.   

„Pink Hotel“ von Anna Stothard ist bei Diogenes erschienen.

Text: erik-brandt-hoege - Fotos: Diogenes, Andri Pol

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