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"Ich möchte ungern das Sprachrohr aller sein"
jetzt.de: "Wir, die Netz-Kinder" kursiert in mittlerweile neun Sprachen durch das Internet. Eben jenes beschreibst du darin als einen unabdingbaren Teil der Wirklichkeit für junge Menschen, eine Art externe Festplatte für Kulturgüter, die sich speist aus der Freiheit der Informationen. Was hat dich dazu gebracht, diesen Text zu schreiben?
Piotr: Wir befanden uns da gerade in einer recht heißen Phase der ACTA-Proteste in Polen. In Deutschland gab's die ja auch, wie gegenwärtig eigentlich in ganz Europa. In den Mainstream-Medien wurde diese Tatsache allerdings verschwiegen und man tat so, als seien diese Proteste lokale Angelegenheiten. Ich habe mir gedacht, dass es gut wäre, wenn all die Menschen, die aktiv gezeigt haben, dass Netz-Themen für sie besonders relevant sind, den Umriss einer Identität bekommen. Es ging darum, ihnen etwas zu geben, womit sie sich identifizieren können – nicht unbedingt in Gänze, aber zu einem Großteil. Und darum, in Zukunft, wenn es wieder zu irgendwelchen Manipulationsversuchen kommen sollte, das Gefühl zu haben, dass es ein "Wir", ein gemeinsames Element gibt, das uns erlaubt gemeinsam aufzutreten und mit einer Stimme zu sprechen.
Wie du gerade schon gesagt hast, ist dein Text aus der Wir-Perspektive geschrieben. Er weist außerdem sloganhafte Passagen auf und plädiert für Freiheit. Ist der Text ein Manifest?
Der Text ist deshalb entstanden, weil ich vom Journalisten einer Lokalzeitung hier [in Gdańsk, Anm. d. Red.], der mich bei einer Debatte mit dem polnischen Minister für Öffentliche Verwaltung und Digitalisierung, Michał Boni, gesehen hatte, darum gebeten worden bin, einen Text zu schreiben, der es ermöglichen würde, älteren Journalisten – oder, allgemein gesprochen: "analogen Menschen" – zu verstehen zu geben, worin der Unterschied zwischen ihnen und denjenigen Leuten besteht, für die ACTA so eine wichtige Sache ist. Statt noch eine trockene, ausgewogene Analyse zu schreiben, beschloss ich dem Ganzen die poetische Form des Manifests zu geben – ohne selbst ein Manifest verfassen zu wollen, aber mit dem Ziel, dass der Text eine Kontroverse auslösen und die Leute zur Diskussion anstacheln sollte. Das hat in der Tat geklappt: Den Leuten ist der Text nach der Lektüre nicht egal. Das hat dazu geführt, dass er sich blitzartzig verbreitet hat. Ja, und es hat sich auch schnell gezeigt, dass das, was für mich eher der Versuch einer Beschreibung mit manifestartigen Elementen war, als Manifest einer bestimmten Generationen ausgerufen wurde. Wobei ich dieses Wort sehr ungern im Bezug auf den Text verwende. Ganz am Anfang des Textes habe ich das schon als Generation definiert, die eigentlich keine Generation ist – sondern eher eine gewisse Gruppe, vielleicht identisch mit dem, was wir in Polen "digitariat" nennen.
Dazu schreibst du: "Wenn ich 'wir' sage, meine ich 'viele von uns' oder 'einige von uns'." Bezieht sich dein Text also nur auf einen Ausschnitt der Gesellschaft: eine digitale Elite?
Ja, ich denke schon. Größtenteils beschreibe ich das "digitariat" oder eine natürliche – wobei das ein riskantes Wort ist – Elite der digitalen Informationsgesellschaft. Ich glaube, dass der Text zumindest in Teilen zu ganz vielen Personen passt, die zusammen mit dem Internet groß geworden sind. Das heißt aber auch, dass diese Personen nicht zwingend das Gefühl teilen müssen, dass Freiheit so wichtig ist. Die Menschen, die gegen ACTA auf die Straßen gegangen sind, haben nicht im Namen irgendwelcher großen, abstrakten Begriffe protestiert. Sie haben nicht im Namen der Freiheit protestiert, sondern aufgrund der Angst vor ganz konkreten Veränderungen – aus der Befürchtung heraus, ihnen werde der Zugang zu ihren Lieblingen im Netz verweigert. Deshalb bin ich so vorsichtig beim Definieren: Ich möchte ungern das Sprachrohr aller sein, weil ich weiß, dass nicht alle diesen Text unterschreiben würden.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Das "Wir" wird im Text von den "Analogen" abgegrenzt. Was haben deine Eltern gesagt, nachdem sie den Text gelesen hatten?
Meine Eltern, beide Jahrgang 1952, haben den Text von mir bekommen. Auf Polnisch gibt es darin eine Passage, in der ich mich auf das Märchen von den drei Geißlein beziehe. Mein Vater rief an mit der Information, dass es entweder sieben Geißlein oder drei Schweinchen gebe, aber keine drei Geißlein. Hier haben die Analogen gesiegt (lacht).
Wie sind die Reaktionen auf deinen Text?
Die Reaktionen, die ich beobachtet habe – egal, ob in Polen oder im Ausland – kann man in drei Gruppen einteilen: Die erste und größte Gruppe sind die Leute, die den Text für gut, wichtig, lesens- und empfehlenswert befinden. Mich freut, dass darunter etwa Cory Doctorow, Jeff Jarvis und Rick Falkvinge sind. Es gibt auch zwei charakteristische Typen von negativen Reaktionen: Vor allem regen sich Menschen auf, die gerade so um die 40 oder 50 Jahre alt und gleichzeitig Netz-Veteranen sind; sie fühlen sich durch die Verwendung des Generationenbegriffs ausgeschlossen. Die letzte Gruppe sind diejenigen, die auf Grundlage des Textes so versuchen zu diskutieren, als sei dies eine soziologische Analyse – sie picken sich einzelne Formulierungen heraus, die sie auf ihre eigene Weise interpretieren.
Am Samstag hat es in verschiedenen EU-Staaten Proteste gegen ACTA gegeben, bei denen zehntausende Menschen protestiert haben. Wieso gehen so viele Menschen gegen das Abkommen auf die Straße?
Meiner Meinung nach sind hierfür zwei Punkte verantwortlich. Erstens haben die Regierungen – nicht bloß die polnische, sondern die europäischen – das Problem zu sehr auf die leichte Schulter genommen: Sie haben nicht gedacht, dass bestimmte Eingriffe im Bezug auf die Netz-Freiheit solch eine laute Reaktion hervorrufen können. Allein die Art, wie an ACTA gearbeitet wurde, war extrem schlecht. Die Menschen sehen ACTA als etwas, das die großen Firmen den politischen Führern untergejubelt haben. Für den Großteil der Leute, die sich für das Thema interessieren, ist die Art und Weise, wie das durchgeführt worden ist, nicht akzeptabel – sie sehen das als einen Beweis für die Arroganz der Herrschenden. Zweitens: Sehr interessant ist die Art, wie Anonymous es geschafft haben, das System zu infizieren. In Polen berichteten die Medien zwei Tage lang nur von ACTA, nachdem Anonymous eine sehr gut organisierte, aber relativ kleine und im Prinzip unschädliche Attacke auf den Regierungsserver verübt hatten. Aus einem winzigen Internetkrieg wurde ACTA zum meist diskutierten Problem in der Öffentlichkeit. Das hat dazu geführt, dass die Masse der Menschen sich plötzlich für das Thema interessiert und gemerkt hat, dass ihre Sympathien auf der Seite der ACTA-Gegner liegen und das was getan werden muss.
"Was uns am wichtigsten ist, ist Freiheit", fasst du zum Schluss zusammen. Nimmt ACTA uns diese Freiheit?
Ich weiß auf jeden Fall aus den Analysen, die ich gesehen und gehört habe, die von kompetenten Menschen durchgeführt worden sind, dass die Einführung von ACTA mit der Gefahr verbunden wäre, dass die Freiheit im Netz eingeschränkt werden würde. Ich bin der Meinung, dass alle Regulierungsmaßnahmen, die mit dem Internet zusammenhängen, in erster Linie garantieren sollten, dass die Freiheit, die wir momentan genießen, erhalten bleibt – deshalb, weil diese Freiheit als ungemein wichtige Errungenschaft unserer Zivilisation angesehen wird. Das ist eine sehr wichtige Sache für uns und für unsere Zukunft und wir müssen jegliche Versuche, diese Freiheit einzuschränken, sehr aufmerksam verfolgen.
Text: jurek-skrobala - Foto: Tadeusz Dąbrowski