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Ich klage an oder: Kann ein Offener Brief die Welt verändern?
jetzt.de: Herr Essig, nachdem bekannt wurde, dass der Verteidigungsminister in seiner Promotion tapfer kopiert hatte, schrieben Wissenschaftler und Doktoranden Offene Briefe, unter anderem an Angela Merkel. Nun ist Guttenberg zurückgetreten. Glauben Sie, die Offenen Briefe haben dabei eine Rolle gespielt?
Essig: Ja, allerdings vor allem einer: der Offene Brief an Angela Merkel, den junge Wissenschaftler initiiert haben. Die schiere Menge der Unterzeichner – pro Minute kommen dreißig dazu – und der gute Ruf vieler Wissenschaftler auf der Unterstützerliste, zudem die klare Argumentation geben ihm besonderes Gewicht im „Bildungsland Bundesrepublik“.
Vergangenen Freitag schrieb Judith Holofernes einen genervten Offenen Brief an die Werbeagentur, die für die Bild-Zeitung arbeitet. Ende Januar hat zum Beispiel die Besatzung der Gorch Fock an den Verteidigungsminister geschrieben. Hat der Offene Brief als Protestform Konjunktur?
Man kann das so sagen. Wenn ich in der Antike als Philosoph einen Offenen Brief an den König von Mazedonien geschrieben habe, habe ich nur wenige Leser erreicht. Heute verbreitet sich solch ein Brief in Windeseile - der Offene Brief hat Konjunktur, weil es soviel leichter ist, ihn zu veröffentlichen. Heute schreiben zudem Leute einen Offenen Brief, die es früher nicht gemacht hätten.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Bei der Suche im Internet stößt man auf sehr viele Offene Briefe. Häufig liest man leise Verzweiflung aus den Schreiben. Fast immer scheint der Brief so etwas wie die letzte Waffe zu sein, mit der man sich zur Wehr setzt. Stimmt das?
Offene Briefe kommen häufig von Autoren, die kein Amt haben und die versuchen, die Öffentlichkeit von etwas zu informieren. Sie wollen ihre Meinung in die Waagschale werfen. Sie stehen damit in einer Tradition, die spätestens mit dem französischen Schriftsteller Emile Zola eine besondere Qualität bekam. Er publizierte 1898 in der Zeitung „L‘Aurore“ einen Offenen Brief an den französischen Staatspräsidenten. Es ging um den angeblichen Landesverrat des Hauptmanns Alfred Dreyfus. Dreyfus war ein Jude aus dem Elsaß und Mitglied des Generalstabs. Als ein Brief an den deutschen Militärattaché auftauchte, in dem Infos über das französische Militär standen, geriet Dreyfus in Verdacht. Zola fand das ungerechtfertigt und warf dem Militär und Regierungsmitgliedern Rechtsbruch vor. Der Offene Brief hat das Land damals gespalten. Er beginnt mit den Worten „J`accuse“, „Ich klage an“. Die Formulierung taucht deshalb noch heute auf, wenn Machtmissbrauch des Staates angeprangert wird. Er ist die Gründungsurkunde der Intellektuellen.
Aber Sie beschreiben doch in Ihrer Arbeit, dass es den Offenen Brief schon länger gibt?
Aber erst mit der Verbreitung in der Massenpresse bekam er seine besondere Wirkung. Zolas Brief stand auf Seite eins der L`Aurore. Er wurde gelesen und verbreitet. Erst mit der Presse und vor allem nach Zola wurde der Offene Brief eine Marke.
Warum eine Marke?
Weil ihn viele wichtige Intellektuelle wie Gottfried Benn, Thomas Mann oder Kurt Tucholsky in Printmedien und sogar schon im Rundfunk benutzt haben.
Ist der Offene Brief nicht einfach ein Leserbrief?
Das soll er eben nicht sein. Er soll nicht einfach ein Artikel sein, ein weiterer Leserbrief. Ein Offener Brief ist etwas rhetorisch Ausgefuchstes. Er ist ein Eintrag in das Beschwerdebuch der Geschichte, wie es Burckhard Dücker einmal genannt hat.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Rolf-Bernhard Essig
Soll er denn immer etwas erreichen oder reicht es, wenn er eine Meinung klarmacht?
Es kommt nicht unbedingt darauf an, dass der Brief sein explizites Ziel erreicht. Das wäre das non plus ultra. Wichtig ist das öffentliche Statement der Schreiber und Unterzeichner. Sie wissen: „Ich habe damals nicht geschwiegen. Ich als Holofernes, ich als Doktorand habe öffentlich meine Position beschrieben.“ Es geht dabei auch um Personalisierung. Beim Offenen Brief spielt immer auch der Voyeurismus der Leser eine Rolle. Ich, der ich das lese, weiß, dass ich das nur in zweiter Linie lesen soll. Das reizt zum Lesen.
Wann ist ein Offener Brief ein Offener Brief?
Wenn es drüber steht.
Ach so.
Das reicht im Grunde. Durch diesen Stempel habe ich schon eine Art von Mehrwert, weil ich von der Marke und der Geschichte profitieren will, die mit dem Offenen Brief verbunden sind.
Und vom Mut Zolas.
Natürlich. Er wurde sogar zu einer Gefängnisstrafe verurteilt.
Warum schreibt niemand Offene Mails?
Das kommt von unserem Hang zum Altmodischen. Ich schreibe häufig Texte zur Herkunft von Redensarten. Es gibt viele Stellen, an denen man merkt, dass unsere Kultur der Realität manchmal Jahrhunderte hinterher hinkt. Wenn ich von „Heller und Pfennig“ rede, dann rede ich von einer Währung, die seit bei uns seit Hunderten Jahren außer Kurs ist. Unsere Sprache ist schwerfällig. Im Film hören Sie zum Beispiel Fernschreibergeräusche, wenn ein dramatisches Ereignis angekündigt wird. Dieses Geräusch, das tatatatata, kommt immer wieder, obwohl es praktisch keine Fernschreiber mehr gibt. Oder die zerrissene Schreibmaschinenschrift! „Kairo, 18 Uhr ...“
Die BILD-Zeitung titelt mit dieser Schrift die Nachrichten von Katastrophen.
Genau. Aber niemand benutzt mehr Schreibmaschinen. Und denken Sie an die Digitalkameras, die wie alte Verschlüsse klingen. Wir wollen auf diese Weise eine Aura erhalten. Genau wie der Offene Brief eine Aura hat, die der Begriff „Offene Email“ nicht hat - zumindest habe ich ihn noch nirgends gelesen.
Mehr zum Rolf-Bernhard Essig und zu seinem Buch "Der Offene Brief" findest du hier.
Text: peter-wagner - Fotos: ddp, Gudrun Schury