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„Ich fühle mich ziemlich zurückgeblieben“

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Beim ersten Hören klingt deine neue Platte sehr poppig und fröhlich. Die Texte sprechen aber eine ganz andere Sprache...
Oh ja, die sind rabenschwarz. Es geht um schwere Themen. Worum? Ich war total traurig, als ich die Songs geschrieben habe. Sie sind so was wie der Versuch, eine neue Weltsicht aufzubauen. Ich bin sehr religiös erzogen. Als Teenager war ich fanatische Christin: Beten, fasten, Kirchenfreizeiten, Kirchenchor – so was hat meinen Alltag bestimmt. Und mit Anfang 20 kam ich plötzlich an einen Punkt, wo ich mich nach dem Sinn dessen gefragt habe. Was ist der Kern dieses Fanatismus, was ist dessen tiefere Bedeutung? Gott? Gibt es den überhaupt? Also hab ich aufgehört mit den ganzen Riten, um zu sehen, was dann übrig bleibt. Aber es blieb nichts. Das war die schlimmste Erfahrung meines Lebens.

Ist deine Musik also ein Versuch, mit diesem Verlust umzugehen?
Ein bisschen. Ich habe mich in das erste Album gestürzt und den Verlust erstmal ignoriert. Aber danach kam dann der Zusammenbruch. Ich musste plötzlich die Fragen stellen, die andere sich mit 16 gestellt haben, weil ich ja damals so in meiner Religion gefangen war. Hast du ein Substitut für deine Religion gefunden? Nein, das ist ja das Problem. Ich kann sie nicht ersetzen. Jeder Ersatz wäre genauso rigide und starr. Diese ganzen Fragen, die mir kamen, können nicht beantwortet werden: Was ist mein Sinn? Wer bin ich? Was will ich? Ich muss lernen, mit der Ungewissheit zu leben und im Jetzt anzukommen.

Die Platte ist also ein Konzeptalbum?
Absolut. In meiner Religion wurden uns gelehrt, dass der Mensch über allem steht. Das bezweifle ich. Deswegen heißt die Platte „Idealistic animals“ und alle Songs sind nach Tieren benannt. Ich will damit sagen, dass der Mensch nicht über den Dingen steht, sondern mitten drin. Auf einer Ebene mit den anderen Lebewesen dieser Erde.  Früher dachte ich, dass jeder frei ist und selbst bestimmen kann, was er mit seinem Leben anfängt. Aber was, wenn das gar nicht stimmt? Wenn es eher Biologie als Schicksal ist, was unser Leben bestimmt? Dann wären wir alle Teil einer chaotischen Masse und es gäbe keine große Narrative oder einen übergeordneten Sinn, der unser Dasein erklären könnte.

 Macht dir das Angst?
Total. Bisher dachte ich immer, ich müsste eine Aufgabe erfüllen. Jetzt sehe ich, dass ich gar keine Kontrolle darüber habe und dass es egal ist, welche Aufgabe ich erfülle und ob überhaupt. Ich quäle mich selbst mit diesen Gedanken, dabei wünsche ich mir einfach, mit mir ins Reine zu kommen. Ich möchte akzeptieren, dass es nicht auf alles eine Antwort gibt. Aber das kann ich noch nicht.

Du sagst „noch“. Vielleicht kommt so eine Gelassenheit ja mit dem Alter?
Ich habe Angst vor dem Altwerden. Auf eine merkwürdige Art fühle ich mich noch ziemlich zurückgeblieben. Vielleicht weil ich im Teenageralter, dann, wenn alle Erwachsen werden und Erfahrungen machen, mit meiner Religion beschäftigt war. Deswegen hab ich das Gefühl, jetzt vieles aufholen zu müssen. Ich spreche nicht von Drogen oder Parties. Es geht mir eher um persönliche Erfahrungen und Einsichten. Viele glauben kaum, dass ich 28 bin.

http://vimeo.com/27529538

Das sind alles sehr persönliche Gedanken, die man wahrscheinlich eher mit einem guten Freund als mit vielen Unbekannten teilt. Wie fühlt es sich an, solche privaten Ängste mit einem großen Publikum zu teilen?
Davor habe ich Angst. Ich habe die Stücke jetzt ein paar mal live gespielt, das war unheimlich. Als wir sie aufgenommen haben, war es kein Problem. Da liegen so viele Soundspuren und Instrumente übereinander, dass es fast gar nicht auffiel, wovon ich singe. Aber wenn wir jetzt auf Tour gehen, werde ich vieles allein, nur mit Klavier spielen. Dahinter werd ich mich nicht verstecken können.

Bei dem ersten Dear Reader-Album vor zwei Jahren wart ihr noch eine Band. Nun hast du dich von deinem Bandkollegen Darrell getrennt und bist jetzt nur noch allein als Dear Reader unterwegs. Wie kam es zu der Trennung?
Es hat sich angefühlt, als würde wir uns scheiden lassen. Wir waren mit der ersten Platte lange auf Tour, danach fiel ich ein Loch. Ich war unglücklich, ich wusste nicht, ob ich weiter in der Band bleiben wollte. Dann wollte ich nach Berlin ziehen und mein ganzes bisheriges Leben über den Haufen werfen. Darrell und ich haben uns in unterschiedliche Richtungen entwickelt: Er hat sein Tonstudio und ist damit sehr erfolgreich, er hat geheiratet, hat ein Haus und Hunde. Er hat sich eingerichtet in seinem Leben. Aber ich wollte weg. Das war sehr schwer. Ich hätte nie gedacht, dass ich ohne Darrell weiter mit Dear Reader machen könnte. Aber er hat mich immer unterstützt.

Nach der Trennung bist du nach Berlin gezogen. Warum Berlin?
Mein Label City Slang ist hier und dadurch kannte ich ein paar Leute. Ich mag die Stadt. Hier sind so viele Ausländer, man fühlt sich irgendwie verbunden. Der Umzug war nicht leicht. Als selbstständige Musikerin aus Südafrika ein Visum zu bekommen, war schwer. Dann Deutsch lernen, eine WG finden und so weiter. Das erste Jahr war hart. Aber so langsam fühle ich mich hier zu Hause.

Deine neue Platte ist aber in Leipzig aufgenommen worden.
Unser Tonmann lebt dort und hat ein Studio in seiner Wohnung. Obwohl. Studio wäre übertrieben. Es ist einfach ein großer Raum mit Equipment, aber er schläft dort auch. Die Aufnahmen haben sich angefühlt, wie Campen. Wir hatten zu der Zeit kein Wasser, keinen Ofen, keine Teller, kein Waschbecken. Wir haben im Winter aufgenommen, es war also total kalt und verschneit. Wir waren ständig auf dem Weihnachtsmarkt zum Glühwein trinken. Es kamen viele Freund vorbei, die jetzt auch auf dem Album sind. Es ist also so was wie ein großes Gemeinschaftsprojekt.  


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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert


"Idealistic Animals" von Dear Reader erscheint an diesem Freitag bei City Slang.

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