- • Startseite
- • Interview
-
•
"Ich bin extrem wütend"
jetzt.de: Sher, ein Telefoninterview musstest du aus Sicherheitsgründen ablehnen. Warum genau, was könnte passieren?
Sher: Zunächst einmal finde ich den Gedanken unangenehm, dass meine Stimme aufgezeichnet wird. Ansonsten gebe ich keine Interviews, weil die syrischen Botschaften weltweit Regimekritiker sehr rege bespitzeln. Und ich mache mir natürlich Sorgen um die Sicherheit meiner Familie in Syrien. Letzte Woche erst hat Deutschland vier syrische "Diplomaten" ausgewiesen, "for spying on opponents of President Assad".
Was denkst du, wenn du die Bilder aus Syrien in den Medien siehst?
Ich bin extrem wütend über die schrecklichen Gräueltaten, die das syrische Regime an der Zivilbevölkerung verübt. Sie kommen einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit gleich.
Mit wem in Syrien hast du Kontakt und wie? Sprecht ihr über die Situation im Land?
Ich habe nur zu meiner Familie Kontakt, wir telefonieren. Es ist sehr gefährlich, über die Lage zu sprechen, darum sprechen wir überhaupt nicht darüber.
Du hast 20 Jahre lang in Syrien gelebt. Was bedeutet Syrien für dich? Und wie war es, unter dem Assad-Regime zu leben?
Obwohl ich mich hier gut eingelebt habe, habe ich immer noch großes Interesse an Syrien, da meine gesamte Familie dort ist. Unter dem Assad-Regime zu leben (sowohl unter dem Vater als auch unter dem Sohn) war eine harte Erfahrung. Ich würde sagen, dass als ethnische Minderheit (ich bin eingebürgerter Brite, aber ursprünglich syrischer Kurde) unter einem autoritären Regime zu leben wahrscheinlich eine der schlimmsten menschlichen Voraussetzungen ist, die man sich vorstellen kann.
Kannst du die politische Entwicklung der vergangenen Jahre zusammenfassen? Wieso ist der Aufstand ausgerechnet voriges Frühjahr ausgebrochen?
Hinsichtlich sozio-politischer und ökonomischer Entwicklungen hat sich in den letzten Jahren in Syrien nichts Bemerkenswertes getan. Trotzdem glaube ich, dass die syrische Revolution eine natürliche und logische Konsequenz der Umstände war, und, dass der Dominoeffekt des Arabischen Frühlings dazu beigetragen hat.
Wie schätzt du persönlich die aktuelle Lage ein? Gibt es Hoffnung für die Opposition?
Wie schon gesagt verschlechtert sich die Situation gerade und leider rutschen wir in einen blutigen Bürgerkrieg ab. Aber ja, es gibt Hoffnung für die Opposition, und ich bewundere den Mut der Syrer.
Wie bewertest du die Strategien der Opposition? Welche sind effektiv, welche nicht?
Die Opposition hat immer den friedlichen Charakter der Proteste betont. Allerdings verschlechtert sich die Situation wie gesagt und daher glaube ich, dass für die Opposition die Zeit gekommen ist, ihre Strategie zu ändern.
Du arbeitest in der syrischen Oppositions-Bewegung im Vereinigten Königreich mit. Was genau tut ihr, um den Aufständischen in Syrien zu helfen?
Wir führen politische Kampagnen durch und betreiben Lobbying. Wir organisieren wöchentlich friedliche Demonstrationen und nehmen zudem Einfluss auf das hiesige Parlament, Parteien, Lords und andere öffentliche Personen, um öffentliche Aufmerksamkeit auf die Situation zu lenken.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Ein undatiertes Foto, bereitgestellt von Syriens Nationalem Koordiationskomitee, zeigt Demonstranten mit der Revolutionsflagge bei einem Protest in der syrischen Stadt Idlib.
In wie vielen Ländern ist die Opposition angesiedelt? Wie seid ihr organisiert, wie haltet ihr untereinander und mit den Menschen in Syrien Kontakt?
Die Opposition ist in drei Blöcke unterteilt:
1. Der Syrische Nationalrat (oder die externe Opposition), dessen Mitglieder auf der ganzen Welt verteilt leben, hauptsächlich aber in Europa (in Deutschland und in Frankreich).
2. Das Nationale Koordinationskomitee für demokratischen Wandel (oder die interne Opposition), dessen Mitglieder in Syrien leben.
3. Der Kurdische Nationalrat, dessen Mitglieder im Nordirak und in Syrien leben.
Die Mitglieder der Opposition kontaktieren sich über alle verfügbaren Kommunikationswege. Das kann manchmal problematisch sein, vor allem für die interne Opposition, weil das Regime die Möglichkeiten einschränkt. Die Demonstranten nutzen Videoaufnahmen und Fotos, um Beweise gegen das Regime zu sammeln, dann schmuggeln sie diese in Nachbarländer wie die Türkei und den Libanon, und schicken sie an die Medien oder stellen sie online.
Als Kurde gehörst du, wie du erzählt hast, einer ethnischen Minderheit in Syrien an. Welche Rolle spielt ethnische Zugehörigkeit im syrischen Konflikt? Ist sie spürbar oder verschwimmt sie innerhalb der Opposition?
Ich glaube nicht, dass Ethnizität eine Rolle in der Revolution spielt. Es ist eine syrische Revolution, keine kurdische oder sunnitische. Es ist eine Revolution von Syrern für Syrer, ungeachtet ihrer religiösen oder ethnischen Zugehörigkeit. Für mich persönlich ist religiöse oder ethnische Identität bedeutungslos, denn die Geschichte zeigt heute, dass ethnischer Nationalismus im Nahen Osten ein fehlgeschlagenes Projekt ist.
Welche Rolle spielen die Arabische Liga und die Nachbarländer?
Erstaunlicherweise hat die Arabische Liga eine zentrale Rolle im Arabischen Frühling generell und insbesondere in der syrischen Revolution gespielt. Sie hat Syriens Mitgliedschaft aufgehoben, hat Beobachter ins Land geschickt (wenn auch erfolglos), hat den syrischen Fall an den UN-Sicherheitsrat abgegeben, wo dann aber China und Russland ihr Veto eingelegt haben. Schließlich hat sie auch noch zu einer gemeinsamen Friedenssicherungs-Mission der Liga und der UN in Syrien aufgerufen. Was die Nachbarländer angeht, unterstützen der Irak und der Libanon das Regime, die Türkei und Jordanien unterstützen die Opposition, und Israel ist, soweit ich weiß, vorsichtiger Beobachter der Situation.
Wie schon gesagt haben China und Russland eine Resolution im UN-Sicherheitsrat blockiert. Nun hat die Mehrheit der UN-Vollversammlung einer Resolution zugestimmt und damit das Vorgehen des syrischen Regimes scharf verurteilt. Denkst du, die internationale Gemeinschaft sollte in den Konflikt eingreifen? Und wenn ja, welche Maßnahmen müssten deiner Meinung nach ergriffen werden?
Ich bin ein liberaler Interventionist, darum glaube ich, dass die internationale Gemeinschaft in Syrien eingreifen und das Regime stürzen sollte. Obwohl es schwierig ist, ist militärische Intervention meiner Meinung nach die beste Lösung. Aber verglichen zu Libyen ist die syrische Situation komplizierter.
Wie kann man die syrische Opposition als Außenstehender am besten unterstützen?
Humanitäre Hilfe ist nötig, aber logistisch schwer zu bewerkstelligen, weil die Grenzen streng bewacht werden. Man bräuchte dafür also eine Sicherheitszone und die gibt es im Moment nicht. Die einzige praktikable Möglichkeit ist es, die Opposition politisch, finanziell und militärisch zu unterstützen.
Text: nadja-schlueter - Foto: dpa