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Geisteswissenschaftler, wacht auf!
Im Moment arbeitet Michael Seemann an seiner Promotion. Er hat sich den Kulturwissenschaften verschrieben und im Laufe seines Studiums viele Einblicke in unterschiedlichste Disziplinen der Geisteswissenschaften bekommen. Wie der 34jährige selber sagt, liebt er die Fächer der "schönen Künste". Nur eines macht ihn wütend: Die Ignoranz vieler Geisteswissenschaftler gegenüber allem, was mit dem Internet zu tun hat. Gestern hat Michael Seemann auf seinem Blog einen Text veröffentlicht, in dem er die verstaubten und seiner Meinung nach weltfremden Geisteswissenschaftler anprangert. Hier ein Auszug:
„Das Internet ist das Medium, in das sich Gesellschaft, der Mensch, die Poesie, all das, womit sich die Geisteswissenschaftler beschäftigen, auslagert. Ein unfassbar spannender Prozess findet hier statt. Aber die Herrn Geisteswissenschaftler sitzen bräsig in ihren Ledersesseln und tun so, als ginge es sie nichts an. Warum sind noch nicht alle Geisteswissenschaftler hier, bloggen, twittern, schreiben, lesen und bringen den Diskurs voran?“
Unter dem Text begann eine Diskussion, die bis jetzt andauert. Die einen User stimmen Michael Seemann zu, die Anderen bezeichnen ihn als ein Mitglied der "Digital Boheme", das sich offensichtlich in der geisteswissenschaftlichen Welt nicht auskennt und verweisen auf netz-affine Geisteswissenschaftler wie Niklas Luhmann und Helmut Willke. Tun sie Michael Seemann damit Unrecht? Ein Interview.
jetzt.de: Michael, warum hast du diese Diskussion angestoßen?
Michael Seemann: Ich bin jetzt schon seit fünf Jahren intensiv im Internet unterwegs. Ich habe dort viele spannende Diskussionen erlebt und bin auf viele intelligente und offene Leute getroffen, habe gesehen, wie sich Theoriegebäude erhoben haben und wieder dekonstruiert wurden. Das Internet hat das Versprechen erfüllt, das die Universität nie halten konnte: Es ist ein offener Raum für Wissen, Diskurs und Erkenntnis. Gleichzeitig findet aber die klassische Geisteswissenschaft hier kaum statt. Wann immer ich mit dem System Universität konfrontiert bin, bekomme ich oft nur kritische Töne und Ablehnung dem Internet gegenüber zu spüren. Das nervt mich schon lange. So sehr, dass ich mich bereits emotional vom Wissenschaftsbetrieb entfernt hatte, was ich extrem schade finde, denn dieser Wandel gehört eben in dieses Feld. Aber was von da kommt - vor allem aus Deutschland - ist weniger als zu wenig.
Rennt das echte Leben der Wissenschaft davon?
Ich glaube schon, dass das auch ein strukturelles Problem ist. Die Universität und der Wissenschaftsbetrieb sind in ihrer ganzen überbordenden Mechanik sehr behäbig. Die Strukturen, die dort existieren, unterscheiden sich oft nicht sehr von denen aus dem letzten Jahrhundert. Die Welt hat sich aber beschleunigt und damit der Diskurs. Ich habe letztes Jahr im Juni einen Aufsatz zu einem wissenschaftlichen Reader verfasst. Er soll bald herauskommen. Innerhalb des Wissenschaftssystems mag das normal sein, aber den gesellschaftlichen Diskurs hat man nach einem Jahr meist längst verschlafen. Natürlich kann die Geisteswissenschaft an ihren Strukturen festhalten, aber dann wird sie eben zunehmend irrelevant für die Gesellschaft.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Michael Seemann
Wen konkret möchtest du mit deinem Text ansprechen ?
Leider die, die ihn nicht lesen werden. Also die, die immer noch von oben herab auf das seltsame Gewusel im Netz blicken und sich krampfhaft am Ledereinband festhalten. Es gibt auch die anderen, klar, aber die sind in der Minderheit. Es gibt da einen gewissen technikfeindlichen Habitus in der Geisteswissenschaft. Ich habe viele Professoren erlebt die stolz darauf waren, nicht per E-Mail erreichbar zu sein. Das ist vor allem ein kulturelles Problem.
Eine der häufigsten Reaktionen, die in den Kommentaren kam, war: „Stimmt gar nicht, schau dir doch mal die aktuellen Forschungszweige an, die beschäftigen sich sehr wohl mit dem Internet". Hat dich das dazu gebracht deine Meinung noch mal zu überdenken?
Ich bekomme gerade ziemlich viel Gegenwind, natürlich von jenen, die längst im Netz angekommen sind. Ich wollte ihre Existenz nie bestreiten, aber leider sind sie im Gesamtgefüge immer noch viel zu irrelevant. Weder hört man sie im Netz, noch in der Wissenschaft selbst, wo sie meist als "Internetleute" nicht ernst genug genommen werden. Das muss anders werden.
Wer hat Schuld? Die Studenten oder die Lehrpläne der Universitäten?
Es ist sowohl ein strukturelles, als auch ein kulturelles Problem. Die Universität muss sich öffnen, bzw. ihr Personal muss sich digital emanzipieren. Man kann durchaus an den bestehenden Strukturen vorbei agieren und den Diskurs direkt im Netz suchen. Einige machen das. Aber hier kommt das kulturelle Problem zum Tragen: die Meisten wollen das gar nicht. Sie glauben, das Internet sei etwas für Techniker und Nerds, dabei ist es längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Alle warten nur noch auf sie.
Ist das Internet noch zu weit weg um sich fundiert damit zu beschäftigen? Das wäre, wie während eines Fallschirmsprungs schon über die Landung zu schreiben.
Die wenigen Beispiele, wo Geisteswissenschaftler sich mit dem Netz beschäftigen, sind häufig gelungen und es gibt eine Menge Richtungen, in die man weiterforschen könnte. Ich habe versucht einige Hinweise zu geben. Und noch mehr: Ich glaube, die Wissenschaft des Internets wird demnächst die Wissenschaft des Menschen sein; des Geistes, der Kultur, der Gesellschaft, der Politik etc. Das wird sich nicht mehr sinnvoll auseinander dröseln lassen, wenn sich alles im Netz abspielt.
Was würdest du dir denn wünschen?
Ich würde mir ein Umdenken wünschen. Es brauchen ja gar keine neuen Strukturen des Wissens aufgebaut zu werden, denn sie sind bereits da. Ich würde mir also nur wünschen, dass die Geisteswissenschaftler das einsehen und mit ihren Diskursen in das Internet einziehen, mitdiskutieren und den Erkenntnisprozess voranbringen. Am liebsten alle, sofort.
Es kam auch der Kommentar: "Es ist leider anders rum: Die "digitale Elite" liest keine Bücher, nichts, was auf Papier steht und/oder in den Unis produziert wird." Was sagst du dazu?
Ich für meinen Teil lese noch Bücher, allerdings nicht so viele, wie einst. Natürlich ist auch das Buch ebenso zum Teil eine überkommene Wissensstruktur, wenn auch noch keine verzichtbare. Wenn der Diskurs sich beschleunigt und sich in andere Medien auslagert - wie zum Beispiel Blogs - dann ist das per se nichts falsches. Und wenn Papers und Bücher aus Universitäten nicht wahrgenommen werden, muss sich die Uni fragen, ob Papers und in Wissenschaftlichen Verlagen zu Höchstpreisen in niedrigen Auflagen gedruckte und in langweiliger Sprache verfasste Bücher noch das Mittel der Wahl sind. Publikumsbeschimpfung bringt da niemanden weiter.
Von dem User Solarsurfer kam als Antwort auf die ganzen kritischen Kommentare der Einwand: „Aus euren Argumentsalven tönt die eigene Angst der Selbstentwertung". Ist es wirkich so – dass die Wissenschaft versucht, sich selbst mit ein paar verkümmerten Zweigen, die sich tatsächlich mit dem Internet beschäftigen, zu rechtfertigen?
Ich will das, was da ist, auch nicht zu klein reden. Es gibt diese Versuche und ich begrüße sie. Ich glaube, da ist aber tatsächlich viel Verunsicherung, die man auch in den Kommentaren spürt. Man weiß ja auch nicht so recht, wie man damit umgehen soll. Soll man sich jetzt komplett ins Netz begeben, welche Strukturen sind unverzichtbar, an welchen scheitert man? Die Wissenschaft steht sich da mit ihrem hochgerüsteten Proporz und seinen Strukturen oft selbst im Weg.
Traust du den Geisteswissenschaften denn überhaupt zu, diese große Aufgabe bewältigen zu können?
Ich glaube, wir werden eine Wandlung sehen. Die klassischen Geisteswissenschaften, als monolithischer Block wissenschaftlicher Disziplinarität, werden weiterhin an Bedeutung verlieren. Aber das, was Geisteswissenschaften geleistet haben und leisten, wird es auch weiterhin geben. Es wird Menschen geben, die sich Gedanken über Menschsein, Gesellschaft, Politik und Schönheit machen. Ob sie an einer Universität sitzen und wie sie sich nennen, ist vielleicht auch gar nicht so wichtig. Hauptsache, sie schaffen den Sprung in's Netz.
Text: julia-siedelhofer - Foto: Luxuz / Photocase