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"Es tut mir weh, nicht dort zu sein"
jetzt.de: Du warst bis Sonntag in Kiew und berichtest jetzt immer noch aktuell auf Facebook und Twitter über die Lage in der Ukraine. Warum warst du dort?
Marina Weisband: Ich war 2012 schonmal in der Ukraine um dort zu protestieren. Dieses Mal war ich eingeladen, auf dem Maidan oder in der offenen Universität über Liquid Democracy zu sprechen, weil den Demonstrierenden dort dringend eine Technik gefehlt hat, um sich politisch zu vernetzen. Ich habe dort dann auch vorgetragen und das ist auch auf fruchtbaren Boden gefallen. Wir haben eigentlich die ganze Woche fieberhaft damit verbracht, den Maidan zu vernetzen und politische Forderungen zu finden, die wirklich von den Leuten selbst kommen und nicht von irgendwelchen politischen Anführern oder Gruppierungen dort. Seit ich zurück bin, telefoniere ich weiterhin mit den Leuten vor Ort. Halte Kontakte per SMS und Facebook, verfolge das ukrainische und russischsprachige Twitter, höre das ukrainische Radio und schaue parallel drei Streams. Das sind meine Quellen, und diese Informationen gebe ich weiter.
Bist du dann noch Beobachterin oder bereits Teil des Protests?
Ich sehe mich schon als Teil dieser Bewegung, auch wenn ich nicht die ganze Zeit physisch präsent sein kann. Ich bin dort aufgetreten, habe die Leute aktiv vernetzt, gehöre zu den Netzwerken - ich hänge da drin.
Planst du, demnächst noch mal in die Ukraine zu fahren?
Ich werde definitiv noch mal nach Kiew reisen. Im Moment ist allerdings ein wenig ungeklärt, ob die Einreise für mich wirklich sicher wäre, wegen meiner ukrainischen Staatsbürgerschaft. Sollte es aber nicht demnächst zu einer massiven Verhaftungswelle kommen, sehe ich mich nicht so sehr in Gefahr, dass ich nicht hinreisen würde.
Warum ist es für dich als ukrainische Staatsbürgerin dort gefährlich?
Wir rechnen im Moment damit, dass es nach der Auflösung des Maidans zu vielen Verhaftungen kommen wird, insbesondere unter den Aktivisten, die dort namentlich aufgetreten sind. Dadurch, dass ich dort ja auch in Erscheinung getreten bin, gibt es für mich ein Risiko. Wenn man mich dann schon mal am Flughafen hat, mit dem Pass in der Hand, ist das Risiko einer Verhaftung höher. Meine deutsche Staatsbürgerschaft wird dort nicht anerkannt, für die bin ich Ukrainerin.
Weswegen würde man dich dann offiziell verhaften?
Das weiß ich nicht. Ein Kumpel von mir, der einen der größeren Livestreams aus der Ukraine betreibt, hat an einer Tankstelle Benzin für die Generatoren gekauft. Er wurde dort verhaftet mit dem Argument, dass das Benzin für Molotow-Cocktails sei. Die Polizei kann da also sehr kreativ und unvorhersehbar handeln. Außerdem wurden alle auf dem Maidan-Platz zu Terroristen erklärt, das wäre auch noch mal eine Rechtfertigung für Verhaftungen.
Du bist kurz vor der großen Eskalation von Montag auf Dienstag abgereist. Wie hast du vorher die Stimmung auf dem Maidan-Platz erlebt?
Ich habe einen sehr desorientierten Maidan mitbekommen. Es war sehr ruhig und friedlich, aber alle haben von einer Ruhe vor dem Sturm gesprochen. Es wussten also alle, dass etwas passieren wird. Aber nicht, dass es so bald passiert. Das war für alle gestern sehr überraschend. Allerdings lief schon in der vergangenen Woche jeder zweite maskiert auf dem Maidan herum, also mit Helmen und in Camouflage, teilweise hatten sie auch Knüppel. In Deutschland würden wir das als bedrohlich empfinden. Ich habe mich aber in der Nähe dieser Menschen wohler gefühlt als in der Nähe von Polizisten. Ich war auch im Regierungsviertel, da war natürlich eine gewisse Spannung zu spüren. Die Straße ist dort komplett abgebrannt, es türmen sich Barrikaden. Die Demonstranten stehen dort Auge in Auge mit der Berkut (Anm. d. Red.: Bewaffnete ukrainische Spezialeinheit), die das Viertel verteidigt.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Marina Weisband wurde 1987 in Kiew geboren. Bis April 2012 war sie politische Geschäftsführerin der Piratenpartei.
Was genau meinst du, wenn du sagst, die Leute waren desorientiert?
Die Leute waren gegen etwas versammelt, aber gleichzeitig herrschte eine große Ratlosigkeit, für was sie denn eigentlich sind. Was für gemeinsame Forderungen sie haben und wie die Ukraine aussehen soll, wenn das alles hoffentlich gut über die Bühne gegangen ist. Mit der immer stärker werdenden Gewalt wird das umso schwieriger. Um politische Strukturen zu planen, braucht man Frieden und Ruhe. Das ist aber das Gegenteil von dem, was wir dort gerade erleben.
Damit es Ruhe gibt, müsste die Regierung aber erst einmal abgesetzt werden...
Ich befürchte, ja. Das Problem ist natürlich, dass, wenn die Regierung weg ist, es auch keine Zeit gibt, um etwas Neues zu planen, weil dann direkt Neuwahlen sein werden. Dann muss man hoffen, dass bei den Neuwahlen etwas Besseres herumkommt, als das, was wir bisher hatten.
Was wäre etwas Besseres?
Ein demokratischer Präsident, der die komplette Spitze der Justiz, der Verwaltung und der Polizei austauscht.
In den deutschen Medien wird viel über Vitali Klitschko als Oppositionspolitiker berichtet. Ist der für dich eine ernstzunehmende Alternative?
Nein. Seine Rolle in der Ukraine ist nicht so stark wie sie hier erscheint. Er wird hier überzeichnet, weil man ihn kennt, das ist „einer von uns“. In der Ukraine wird er als sehr schwach wahrgenommen. Er spricht kaum Ukrainisch, ist wenig charismatisch, hat viel Zeit im Ausland verbracht. Stattdessen spricht er Russisch und taucht immer wieder mal auf dem Maidan auf, spricht ein paar Worte und dann ist er wieder weg. Seine Einschätzung der Situation deckt sich auch nicht mit der vieler Ukrainer. Er ruft die Demonstranten zu Frieden und Geduld auf, aber die haben keine Geduld mehr. Deshalb wird er auch immer wieder ausgebuht.
Gibt es alternative Persönlichkeiten, auf die die Menschen hoffen?
Nein. Das ist auch eines der Probleme des Maidans. Wobei ich das nicht so als Problem sehe. Ich glaube, die Leute müssen langsam mal lernen, ohne starke Führungsfigur klarzukommen. Aber das ist noch ein weiter Weg.
Wie haben deine Freunde auf die Gewalt in der vergangenen Nacht reagiert? Sind sie geflohen?
Das ist ja das Interessante: In der vergangenen Nacht (Anm. d. Red.: 18. auf 19. Februar) sind die Leute eher noch auf den Maidan gestürzt als davon runter. Allen ist klar: Wenn der Maidan aufgelöst wird, ist die Sache vorbei. Deshalb versuchen die Menschen, aus dem ganzen Land Verstärkung zu rufen. Die Taxiunternehmen wurden bequatscht, die Leute dort hinzubringen. Danach war es dann auch wichtig, dass Leute wiederkommen um die Infrastruktur neu aufzubauen.
Inwiefern?
Man muss sich vorstellen, dass auf dem Maidan die vergangenen Wochen eine Mini-Stadt war, bestehend aus Zelten. In diesen war alles Überlebensnotwendige: Feuerholz für Wärme, trockene Anziehsachen, Medizin, IT fürs Streaming und die Kommunikation auf dem Maidan. Diese Zelte sind in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch komplett abgebrannt und jetzt fehlt es an allem. Über soziale Netzwerke wird jetzt zu Blutspenden aufgerufen, wegen der Verletzten. Die gehen ja nicht ins Krankenhaus aus der Angst heraus, verhaftet zu werden.
Hast du gerade das Gefühl, es ist gut, dass du da weg bist?
Nein, es tut mir weh, nicht dort zu sein.
Was kann man aus deiner Sicht von Deutschland aus noch tun um zu helfen?
Die deutsche Politik kann etwas machen und wir können Druck auf die deutsche Politik machen. Janukowitsch und seine Freunde haben in der EU Konten, auf denen illegal erworbenes Geld liegt. Wenn man diese Konten sperrt, kann man Druck ausüben und sie zwingen die Gewalt einzustellen.
Denkst du, die Situation in der Ukraine wird noch stärker eskalieren als in der vergangenen Nacht?
Das kann definitiv passieren. Ich weiß nicht, ob sie überhaupt zulassen, dass sich eine so große Versammlung noch einmal bildet. Aber im Moment strömen die Menschen wieder auf den Maidan, aus der gesamten Ukraine. Es wird immer größeres Geschütz aufgefahren. Ich weiß nicht, inwieweit das Drohgebärde ist oder inwiefern dort etwas sehr Schreckliches vorbereitet wird. Ich denke aber, dass die Gewalt, sobald es dunkel wird, wieder eskalieren wird, und ich bete, dass es nicht schlimmer wird als Dienstagnacht.
Text: charlotte-haunhorst - Fotos: dpa