- • Startseite
- • Interview
-
•
"Es sind jetzt nur noch zehn Kamerateams da"
jetzt.de: Wie ist es zur Zeit, in Haltern am See zu leben?
Mika Baumeister: Ein wenig hat sich die Lage beruhigt. Am Mittwoch beim Trauergottesdienst war die Stimmung ruhiger als letzte Woche. Bei den Familien selbst wird es noch lange dauern, bis sie es wahrhaben können. Manche realisieren das noch gar nicht richtig.
Wie gehen die Angehörigen mit der täglichen Berichterstattung um, spricht man darüber?
Nein. Am Unglückstag lief die Glotze relativ genau bis 12:30 Uhr. Dann war klar, das ist der Flug, da saß meine Tochter drin, ich kann mir den Rest denken. Und dann liefen diese ganzen Spekulationen. Das bringt den Familien gar nichts. Die sind lieber mit ihrer Trauer allein.
Sind noch so viele Journalisten vor Ort wie letzte Woche?
Definitiv weniger. Am Donnerstagabend standen zum ersten Mal keine Pressevertreter vor der Schule. Wegen des Trauergottesdiensts waren gerade mal zehn Kamerateams da, was wenig ist im Vergleich zu vorher. Das waren größtenteils deutsche Medien, Bild hat live gebloggt, NTV, aus Frankreich war auch jemand da, aber größtenteils haben die sich angemessen verhalten. Das habe ich auch in meinem Blog erwähnt.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Die ständige Präsenz der Presse stellt eine zusätzliche Belastung für die Angehörigen dar, sagt Mika.
Dein Blog namens "(Bau)meistergedanke" hat in der vergangene Woche viel Aufmerksamkeit bekommen, weil du die Methoden der Medien in Haltern kritisiert hast. Worüber schreibst du sonst?
Ich schreibe, seit ich 16 bin, auf verschiedenen Websites und Blogs, meist über Technisches. Auf meinem Blog habe ich noch nicht sehr viele Einträge, aber es ist für mich eine gute Möglichkeit, über Dinge zu schreiben, die mich so beschäftigen und meine Gedanken zu teilen.
Verfolgst du noch die Berichterstattung über die Katastrophe?
Wenn ich über Negatives berichte, muss ich es mir natürlich auch anschauen. Seiten, die ich vorher nie besucht habe, schaue ich mir in den letzten Tagen auch an. Weil ich einfach gucken muss, über was die schreiben.
Vieles wurde auf sehr entwürdigende Art und Weise berichtet. Du schreibst, Spiegel TV habe sich besonders dreist verhalten.
Ich kann natürlich nicht mit Sicherheit sagen, ob es nun definitiv Spiegel TV war. Meine Quelle, ein direkter Angehöriger, ist sich weiterhin relativ sicher, doch Spiegel behauptet das Gegenteil. Ich überlasse jedem selbst, was er darüber denkt.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Mika, 18.
Was denkst du, welche Auswirkungen der Sensationsjournalismus auf die Gesellschaft hat?
Wenn man bei jeder Berichterstattung eine tote Person oder eine Trauergruppe sieht, gewöhnt man sich daran und möchte das immer sehen, aber das ist verkehrt. Die Zuschauer verrohen mit der Zeit.
Hat sich dein Berufswunsch geändert, nachdem du gesehen hast, wie sich einige Medien verhalten haben?
Ich sehe meine Zukunft immer noch im Journalismus. Aber nach dieser Erfahrung würde ich bei bestimmten Medien nicht mehr arbeiten wollen. Die, die ich kritisiert habe, würden mich wahrscheinlich auch gar nicht mehr nehmen. Die Ablehnung ruht aber sicherlich auch auf Gegenseitigkeit.
Bekommst du viele Interview-Anfragen?
Einige wenige. Ich stehe in einem Zwiespalt: Auf der einen Seite sollte in Haltern Ruhe einkehren, auf der anderen Seite finde ich, dass viele Leute noch erfahren sollten, dass es da Widerstand gab.
Denkst du, dass solche Aufschreie eine Veränderung bewirken können? Nach dem Amoklauf von Winnenden im Jahr 2009 hatte man auch die Sensationslust mancher Medien kritisiert - in Haltern sieht man, dass sich wenig geändert hat.
Eine Edekafiliale und einige Tankstellen haben auf Facebook gepostet, dass sie die Bildzeitung nicht mehr verkaufen. Mein Problem ist, dass ich mit meinem Text natürlich nicht jede Zielgruppe erreiche, insbesondere die, die die Sensationspresse liest.
Es sind gerade Ferien. Merkst du das überhaupt?
Nicht wirklich. Ich habe die letzten Tage viel Zeit in der Schule verbracht, um die zehn Stunden pro Tag. Aber das tue ich gern. Seit ich den Artikel veröffentlicht habe, bin ich natürlich auch anderweitig beschäftigt, muss auf Mails, Kommentare und so weiter reagieren.
Hat sich denn durch diese Katastrophe der Zusammenhalt bzw. die Gemeinschaft in Haltern verstärkt?
Auf jeden Fall. Wir sind eine kleine Stadt und jeder kennt jemanden, der davon betroffen ist. Leute treffen sich spontan, um gemeinsam zu trauern. Das ist außergewöhnlich.
Text: dilek-ozyildirim - Fotos: Mika Baumeister