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"Die Revolution ist noch längst nicht vorbei"
Tunesien war nicht nur das Land, in dem Anfang 2011 per Facebook eine Revolution losgetreten wurde. Es ist auch das erste Land des arabischen Frühlings, in dem Wahlen stattfanden. Aus ihnen ging Ende Oktober 2011 die gemäßigt islamistische Ennahda-Partei als Sieger hervor. Die Regierung hatte den Auftrag, innerhalb eines Jahres eine neue Verfassung zu verabschieden.
Am vergangenen Sonntag ist dies geschehen - mit mehr als einem Jahr Verspätung. Ideologische Grabenkämpfe zwischen den Islamisten der Ennahda-Partei und der säkular orientierten Opposition hatten den Prozess lange verzögert. Die politische Kultur des Landes hat daran Schaden genommen. Junge Tunesier, die für den Sturz des Diktators Zine el-Abidine Ben Ali, auf die Straße gegangen waren, waren nicht nur enttäuscht von der zögerlichen Entwicklung. Sie sahen sich auch neuen Repressionen ausgesetzt. Das betraf insbesondere junge Frauen.
Nidhla Chemengui ist eine von ihnen. Die 27-jährige Psychologin wurde in Tunesien bekannt als politische Bloggerin. Die Revolution hat sie zur Aktivistin gemacht. Per Twitter (@za_zou) kommentiert Nidhal das Geschehen. Privat wie politisch. Denn diese beiden Bereiche sind in Tunesien eng miteinander verwoben. Aktuell arbeitet Nidhal als Projektmanagerin für das Goethe-Institut in Tunis.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Bloggerin Nidhal findet, es sind gerade die kleinen Gesten und Rituale einer Gesellschaft, auf die man aufpassen muss.
jetzt.de: Nidhal, Tunesien hat jetzt endlich eine neue Verfassung bekommen. Wie gut siehst du demokratische Menschenrechte und insbesondere die Rechte der Frau darin verankert?
Nidhla Chemengui: Was die Rechte der Frau betrifft, betritt diese Verfassung meines Erachtens kein Neuland. Es ist im besten Fall eine Fortschreibung dessen, was wir hatten. Zumindest in der Theorie. Was in den vergangenen Monaten in der Praxis passiert ist, steht auf einem anderen Blatt.
Was waren die heiklen Punkte, die die Verfassung so lange hinausgezögert haben?
Die Frage der Rechtmäßigkeit von Polygamie war ein Thema, ebenso das Erbrecht. Die Islamisten haben uns säkular Denkende so sehr provoziert, dass es am Ende nicht darum ging, mit einer neuen Verfassung einen Schritt oder sogar mehrere Schritte nach vorne zu gehen. Wir, die Opposition, mussten kämpfen, um das zu erhalten, was wir bereits hatten. Es gab politisch motivierte Anschläge, das Land wurde dadurch destabilisiert. Dieses ganze Getöse hat politische Fortschritte behindert. Aber die Geschichte wird uns eines Tages dafür belohnen, dass wir diese Kämpfe ausgefochten haben. Auch, wenn es eigentlich absurd ist, darum zu kämpfen, dass ein Status Quo erhalten bleibt.
Ban Ki Moon, der Generalsekretär der Vereinten Nationen, hat Tunesien seinen Respekt ausgesprochen. Dein Land habe eine historische Etappe gemeistert.
All die Probleme in den ländlichen Regionen, die unfassbare Bürokratie, die so viel blockiert, der Zustand des Bildungswesens und unzählige andere Probleme geht diese Verfassung nicht an. Was Ban Ki Moon sagt, ist meines Erachtens insofern zutreffend, als jetzt endlich eine neue Verfassung verabschiedet wurde. Das ist „historisch“. Aber die Revolution ist noch längst nicht vorbei. Es gibt so viele Bereiche, in denen noch viel im Argen liegt. Da die Politik bisher versagt, sehe ich es als Aufgabe der Zivilgesellschaft an, die Menschen über ihre Rechte aufzuklären.
Inwiefern trägst du deinen Teil dazu bei?
Ich kommentiere das Geschehen per Twitter. Und ich arbeite aktuell als Projektmanagerin beim Goethe-Institut. Wir planen eine Sendung für Frauen. Es geht darum, ihren Bedürfnissen Gehör zu verschaffen.
Um welche Bedürfnisse geht es dabei?
Es geht darum, was die mündige Bürgerin ausmacht, um Rechte, soziales Engagement, den Zusammenschluss in Kooperativen, das Gemeinwesen.
Klingt recht theoretisch.
Es gibt auch etwas Greifbareres: Wir sammeln und verbreiten alte tunesische Märchen und Geschichten, die unsere Großmütter erzählen und die drohen, verlorenzugehen.
Auf Twitter hast du diese Woche geschrieben: „Ein Schleier auf den Köpfen der Ministerinnen, was soll das?“
Mit diesem Tweet wollte ich ausdrücken, dass ich es nicht in Ordnung finde, ja, sogar verurteile, wenn Politikerinnen ihren Kopf bedecken, wenn sie in offizieller Funktion in einer Demokratie tätig sind. Weder ist das Regierungsgebäude ein heiliger Ort, noch haben die Regierung oder die Republik etwas mit Religion zu tun. Tunesien ist ein säkularer Staat. Ich lehne den Schleier in politischen Ämtern ab! Ministerinnen sollen keinen Schleier tragen! Es sind solche kleinen Gesten, auf die wir aufpassen müssen. Sie haben das Zeug, große Veränderungen zu bewirken. Wir müssen gerade sehr achtsam sein.
Welche Rolle sollte die Religion deiner Meinung nach in einem Staat spielen?
Religion ist ein Teil der tunesischen Identität. Aber dass eine einzige Religion die Gesetze einer Gesellschaft diktiert, Ist falsch. Die Religion soll schön da bleiben, wo sie hingehört: Ihre Domäne ist der Glaube des Einzelnen. Wir sind keine Gesellschaft, der man jetzt plötzlich Gesetze aufdrücken kann, deren Gültigkeit nur darauf beruht, das sie vom Propheten aufgestellt wurden und deshalb heilig sind.
Du bist während der Revolution als politische Bloggerin bekannt geworden. Warum schweigt dein Blog seit Anfang Januar?
Es ist alles noch so aufgeregt im Moment. Meiner Meinung nach ist es noch zu früh, um ein Urteil darüber zu fällen, was aus uns und unserem Land geworden ist. Wie ich schon sagte: Die Revolution geht weiter.
Text: sandra-zistl - Foto: oh