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Die Macht des Blicks

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jetzt.de: Herr Penz, wenn wir uns begegnen würden und ich trüge einen Bart – wie würden Sie reagieren?  
Dr. Otto Penz: Das käme darauf an, wie Sie sonst aussehen. Aber ich denke, ich würde es eher für eine Verkleidung halten.  

Ich habe in den letzten beiden Wochen nach dem Eurovision Song Contest extrem viele Bilder von Conchita Wurst, also einer Frau mit Bart gesehen, und dazu Bilder von Frauen mit angeklebtem oder gephotoshoptem Bart oder von bärtigen, geschminkten Männern mit Perücken – und habe irgendwann gemerkt, dass mir das gar nicht mehr ungewöhnlich vorkommt. Kann diese Bilderflut unsere Sehgewohnheiten nachhaltig verändern?  
Das ist ein heikler Punkt unserer Sehgewohnheiten, weil es um Vorstellungen davon geht, was Natürlichkeit ausmacht. Und die sind für die meisten Menschen sehr stark an den menschlichen Körper gebunden. Es geht dabei ja nicht um einen modischen Wandel, sondern um  Geschlechterkonzeptionen, die es schon sehr lange gibt. Darum ist eine Frau mit Bart keine Veränderung, an die sich die Menschen leicht gewöhnen. Und selbst wenn, bleibt die Frage, ob das auch wirklich zu veränderten Geschlechtervorstellungen führt.  

Apropos modischer Wandel: Erst denkt man noch „Ach du Schreck, Karottenhosen!“ und dann trägt man sie doch selbst. Wieso schaffen wir es in Bereichen wie der Mode schneller, uns zu gewöhnen? 
Die Geschlechterfrage stellt unser grundsätzliches Zusammenleben in Frage. In allen Bereichen, die das nicht tun, ist es leichter, Neues aufzunehmen und sich damit vertraut zu machen. Nehmen Sie zum Beispiel Tattoos, an die wir uns ja mittlerweile gut gewöhnt haben, oder den Übergang von der postmodernen Architektur zu den heute klaren Linien. Das nehmen wir auch als positive Veränderung wahr.  

Aber Mode kann sich doch auch auf die Geschlechterfrage auswirken, wenn zum Beispiel Mode für Frauen „männlicher“ wird.  
Ja, so ist es auch. Wenn sie sich die Modegeschichte anschauen, dann sehen Sie, dass die zunehmende Selbstständigkeit von Frauen Hand in Hand geht mit der Übernahme von männlichen Bekleidungsteilen. Die Hose ist da das beste Beispiel.  

Wie wichtig sind Sehgewohnheiten generell für eine Gesellschaft, wie sehr prägen sie ihre Struktur und Funktionsweise? 
In unserer Gesellschaft lassen sich an den Sehgewohnheiten vor allem Machtaspekte ablesen. Wir haben jetzt die längste Zeit ein Blickregime, in dem Männer in aller Regel das Subjekt sind und die Frauen das Objekt, also diejenigen, die betrachtet werden. Das manifestiert sich in den Vorstellungen vom „schönen Geschlecht“. Das ist ein wichtiger Aspekt. Wer in der Lage ist, den anderen anzublicken, unterwirft ihn und übt Macht aus.  

Also wirken sich Sehgewohnheiten negativ auf Gesellschaften aus?  
Unsere gesamte Gesellschaft ist durch Machtstrukturen konstituiert. Nicht in einem parteipolitischen Sinne, sondern insofern, dass bestimmte Klassen, Gruppen, Geschlechter auf Kosten anderer Macht ausüben. Nicht zuletzt im visuellen Bereich. Wer bestimmt darüber, was der gute Geschmack in einer Gesellschaft ist? Wer bestimmt darüber, wie Weiblichkeit aussieht? 

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Dr. Otto Penz

Ist es also eine Form von Widerstand, mit Sehgewohnheiten zu brechen?  
Conchita Wurst bricht mit den normalen Vorstellungen und Sehgewohnheiten und das wirft zumindest die Machtfrage neu auf. Sie hat eine weibliche Identität und zeigt, dass die nicht unbedingt mit einem weiblichen Körper zusammengehen muss, sondern dass man sehr wohl mit einem männlichen Körper auch eine weibliche kulturelle Identität haben kann. Das ist ein interessantes Spiel.  

Hat der Bruch mit Sehgewohnheiten schon mal einen gesellschaftlichen Wandel angestoßen?  
In den vergangenen 50 oder 60 Jahren natürlich der Feminismus. Wenn man heute in die Werbung schaut, ist der Sexismus zurückgegangen und es gibt eine Annäherung in der visuellen Darstellung der Geschlechter.  

Und abseits der Geschlechterfrage?  
Das ist ein fortlaufender Prozess. Mit dem visuellen Material, mit dem wir konfrontiert sind, verändern sich auch unsere Sehgewohnheiten. Denken Sie beispielsweise daran, wie sehr wir es gewöhnt sind, nackte oder wenig bekleidete Menschen zu sehen, und vergleichen Sie das mit der Situation vor gut hundert Jahren, wo der Anblick einer entblößten Wade obszön war.  

Was prägt unsere Sehgewohnheiten heute am stärksten: das unmittelbare Umfeld oder die Medien, mit denen wir ja extrem viel umgehen?  
Das ist ein Zusammenspiel. Mit Sicherheit sind die Medien und die medialen Möglichkeiten eine wichtige Quelle und Basis unserer Vorstellungsweisen und teils sind die medialen Bilder uns tatsächlich vertrauter als das, was wir im realen Leben sehen. Ich denke da als Österreicher zum Beispiel an einen Skiabfahrtslauf. Wenn Sie den vor Ort erleben, sehen Sie gar nichts, da huscht eine Gestalt an Ihnen vorbei und das war’s. Unsere Sehgewohnheiten gehen aber eher dahin, die Fernsehbilder im Kopf zu haben, die einen kontinuierlichen Verlauf haben, sodass wir die Abfahrt von oben nach unten sehen können. Wir sind, wie Baudrillard es seinerzeit beschrieben hat, an eine Art Hyperrealität gewöhnt und daran, dass wir über die Medien teils mehr sehen als im wirklichen Leben.  

Wir sind den ganzen Tag von unfassbar vielen Bildern umgeben. Hat das unsere Sehgewohnheiten flexibler gemacht? Können wir uns schneller anpassen als die Menschen vor 50 Jahren?  
Ja, ich denke, der Wandel der Sehgewohnheiten beschleunigt sich. Die Mode zum Beispiel hat sehr kurze Rhythmen, meist halbjährlich, das erfordert immer wieder neue Einstellungen.  

Ein anderer Aspekt der medialen Bilder wäre aber doch, dass beispielsweise Models durch Photoshop auf eine Linie gebracht werden und sehr einheitlich aussehen.  
Das auf der einen Seite, aber auf der anderen tauchen immer mehr ältere Models auf, es gibt stärkere Fokussierung auf männliche Models oder solche, die die Geschlechtergrenzen überschreiten.  

Gibt es eine Möglichkeit, die eigenen Sehgewohnheiten aktiv zu ändern, unabhängig von dem, was einen den ganzen Tag umgibt?  
(lacht) So geht das glaube ich nicht, das ist ja kein rein willentlicher Akt. Es passiert immer in Interaktion. Sie können sich vornehmen, Dinge anders zu betrachten, trotzdem bleiben Sie in dem kulturellen Kontext verfangen, in dem Sie schauen und der ihre subjektiven Sehgewohnheiten prägt.       


Text: nadja-schlueter - Fotos: Reuters, privat

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