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Die Abgehängten: Was passiert, wenn Menschen arm werden?
"Wir haben keinen Begriff von Armut in unserem eigenen Land", schreiben Nadja Klinger und Jens König in ihrem Buch Einfach abgehängt. Es gebe Langzeitarbeitslose, Hartz-IV-Empfänger, erwerbs- und nicht erwerbsfähige Hilfeempfänger, die alte Unterschicht und die neue Unterschicht. Aber, so Klinger/König, wir wüssten nicht, was es bedeutet, in Deutschland arm zu sein und was für Schicksale sich dahinter verbergen. Das wollen die beiden Berliner Journalisten durch ihr Buch ändern. Sie haben deshalb ihren Standort in der gesicherten Berliner Mitte verlassen und sind an den Rand der Gesellschaft gereist, um in in drei Essays und zwölf Porträts der Frage auf den Grund zu gehen, was Armut in Deutschland bedeutet. Da ist etwa der Wirtschaftswissenschaftler mit super Job, dessen Einkommen aber gepfändet wird. Seine größte Angst ist, dass seine Anzughose verdreckt, weil er die Reinigung nicht zahlen kann. Oder die arbeitslose Einzelhandelskauffrau, die jeden Donnerstag um 8 Uhr 30 im Radio anruft, wenn die neuen Kinofilme vorgestellt werden, um Kinokarten für ihre Kinder zu gewinnen. Wenn ein Kind für 2, 50 Euro schwimmen gehen will, muss es das eine Woche vorher anmelden, damit die Mutter bis dahin sparen kann. "Das Schicksal liegt im Alltäglichen", schreiben Jens König und Nadja Klinger. Die Porträts zeigen eindrucksvoll, wie erniedrigend und was für ein Kampf diese, auf den ersten Blick wenig aufregend klingende Erkenntnis, für die Betroffenen ist.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Nervt Sie die Debatte über die "neue Unterschicht"? Das ist eine typisch deutsche Armutsdebatte, die da gerade geführt wird. Sie reagiert lediglich auf ein Reizwort - "Unterschicht" - , skandalisiert oberflächlich einen lange bekannten Befund und wälzt sich als Erregungswelle über die Köpfe der betroffenen Menschen hinweg. Es wird so getan, als seien die Armen an ihrer Situation ganz allein schuld: Alle faul, frustriert und ohne Willen zum sozialen Aufstieg. Außerdem wird in dieser Debatte mit falsche Zahlen operiert. Inwiefern falsche Zahlen? Die "Unterschicht", wenn man diesen Begriff schon benutzt, ist keine fest definierte Größe, von der man genau wüsste, wieviel zu ihr gehören. Zudem ist Armut nicht nur ein Problem dieser wie auch immer definierten "Unterschicht". Die Untersuchung der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung, die diese Diskussion erst ausgelöst hat, ist keine Sozial- und schon gar keine Armutsstudie, die auf Grundlage objektiver Kriterien sozioökonomische Daten erhoben hat. Bei ihr handelt es sich um eine repräsentative Studie, für die die Forscher der Ebert-Stiftung rund 3.000 Bürger um Auskunft darüber baten, wie sie selbst ihre soziale Lage einschätzen. Ziel war es, aus diesen Selbstauskünften Schlussfolgerungen für die politischen Einstellungen der Deutschen zu ziehen. Zu diesem Zweck haben die Wissenschaftler die Bevölkerung nach eigenen Kriterien in neun politische Typen unterteilt. Ein Typus ist das "abgehängte Prekariat", also Menschen, die sich als Verlierer und im gesellschaftlichen Abseits fühlen. Dazu rechnen sich acht Prozent der Bevölkerung. "Bild am Sonntag", das Fachblatt für soziale Fragen, hat, streng wissenschaftlich, versteht sich, das "abgehängte Prekariat" einfach mit "neue Unterschicht" übersetzt und daraus die zweiseitige Schlagzeile gemacht: "Sechs Millionen Deutsche gehören zur neuen Unterschicht." Danach begann die verhängnisvolle Debatte. Kurt Beck hatte vorher schon in einem Interview gesagt, es gebe zu viele Menschen, die sich mit ihrer Situation abgefunden hätten und denen der Aufstiegswille fehle. Diese Aussage wurde teilweise als revolutionär gefeiert. Wenn das revolutionär ist, bin ich der Papst. Alle müssten wissen, dass die soziale Spaltung in Deutschland so groß ist wie lange nicht. Die Armut, egal wie man sie definiert, wächst. Ein Verdienst der rot-grünen Bundesregierung war ja, dass sie eine nationale Armutsberichterstattung eingeführt hat. Im 2. Armuts- und Reichtumsbericht aus dem Jahre 2004 kann man die traurigen Zahlen lesen: 11 Millionen Deutsche leben in Armut oder sind von Armut bedroht, Tendenz steigend. Außerdem steht dort schon geschrieben, dass sich die Armut in bestimmten sozialen Milieus verfestigt. Zwei Jahre später fällt Beck nichts anderes ein, als diesen Zustand zu beklagen. Er sollte sich lieber fragen, warum die SPD nichts dagegen unternommen hat. Aber stimmt es nicht auch teilweise, was Beck sagt? Becks Analyse ist einseitig. Er schiebt den Betroffenen den schwarzen Peter zu. Keine Frage, viele Menschen haben den Willen zum sozialen Aufstieg verloren. Sie verlassen sich auf die Alimente des Staates. Aber liegt das nur an ihnen selbst? Oder nicht auch an den gesellschaftlichen Verhältnissen, an einem unsoziale Bildungssystem etwa? Nehmen wir das Beispiel eines 22-jährigen Deutsch-Türken aus Berlin-Neukölln, der die Hauptschule nicht geschafft hat und deswegen keine Ausbildung bekam. Weil er keine Ausbildung bekam, hat er keinen Job. Weil er keinen Job hat, hat er keine Perspektive. Er setzt auf Hartz IV und hofft auf ein großes Wunder, eine Drogenkarriere oder was auch immer. Warum spricht Beck nicht darüber, dass die Hauptschule zu einem Ghetto für soziale Verlierer geworden ist, aus dem sich die Betroffenen nicht selbst befreien können? Außerdem reichen heute oft die beste Ausbildung und der feste Wille zum Aufstieg nicht mehr aus, um Erfolg zu haben. Das blendet der SPD-Chef völlig aus. Armutspolitik muss heute vor allem Bildungspolitik sein. Wie müsste die Diskussion Ihrer Meinung nach geführt werden? Wir haben einfach keinen Begriff von Armut. Unsere Gesellschaft ist, was Armut betrifft, autistisch. Sie interessiert sich, wie viele Autisten, nur für Systeme. Sie diskutiert die "Agenda 2010", sie predigt den "Umbau des Sozialstaates", sie sucht die "neue Unterschicht". Sie kennt tausende Statistiken über die deprimierende Lage auf dem Arbeitsmarkt. Sie spuckt Zahlen, Diagramme und Schaltpläne aus. Sie kann alles abstrahieren. Aber den Kontakt zu denen, die das betrifft, die damit klarkommen müssen, die darunter leiden, diesen Kontakt hat die Gesellschaft verloren. Wir wissen nichts über ihr Leben. Aber nur indem wir genau hinschauen, unseren gewohnten Standpunkt verlassen und die Biografien der Ausgegrenzten betrachten, lernen wir, was Armut heißt und können eine Politik entwickeln, die den Menschen hilft. Sie sind für Ihr Buch in ganz Deutschland herumgereist, um mit armen Menschen zu sprechen. Was heißt arm? Ich könnte Definitionen herbeten. Ich kann es aber auch so sagen: Wir haben die Porträts für unser Buch im Winter recherchiert. Wir haben oft gefroren und in dicken Pullovern vor unseren Gesprächspartnern gesessen. Viele hatten nur auf 15 Grad geheizt. Aber nur im Wohnzimmer, die anderen Räume waren wie Kühlschränke. Für mehr reichte das Geld nicht. Einige verwenden das Wasser, mit dem sie duschen, noch zum Spülen in der Toilette. Sie leben von Hartz IV und haben nach Abzug ihrer Kosten noch 20 Euro in der Woche für Lebensmittel und Hausrat. Sie müssen jeden Cent zweimal umdrehen. Kino, Theater, Sportverein - all das fällt aus. Ihr Freundeskreis wird kleiner. Sie gehen nicht mehr aus dem Haus. Ihre soziale Ausgrenzung passiert ganz subtil. Was hat sie am meisten bewegt während Ihrer Recherche? Dass so wenig Tränen geflossen sind. Die Menschen haben von dramatischen Schicksalsschlägen erzählt und waren dabei ganz gefasst. Überrascht hat uns, dass keiner unserer Gesprächspartner sagte, er sei arm. Alle sagten: Wir haben zu wenig Geld, es reicht oft hinten und vorne nicht - aber wir kommen klar. Das ist das letzte Stück Würde, dass ihnen geblieben ist. Und es war sehr aufschlussreich zu lernen, wie anstrengend es ist, ein Leben an der Armutsgrenze zu führen. Das ist ein täglicher Kampf. Hat dieses Buch Ihr Bild von Deutschland verändert? Vorher habe auch ich nur abstrakt über Armut geredet. Heute bemühe ich mich, genau hinzusehen. Wenn ein Kind im November in Sandalen in die Schule kommt, können Sie sich natürlich über die Eltern aufregen, die am Morgen wieder mal nicht darauf geachtet haben, was ihr Kind anzieht. Sie können sich aber auch fragen, ob die Eltern vielleicht nicht genug Geld haben, um ihrem Kind neue Schuhe für den Herbst zu kaufen. Die Fähigkeit, Armut zu erkennen, kann und muss man erlernen. Aber was kann ich dann machen, wenn ich das sehe? Nichts. Was die Betroffenen am allerwenigsten benötigen, ist unser Mitleid. Aber genaues Hinsehen könnte helfen, das Problem der Armut in Deutschland in seiner ganzen Schärfe erst einmal wahrzunehmen. Das ist noch keine Lösung - aber eine wichtige Voraussetzung dafür. Die armen und sozial ausgegrenzten Menschen haben den Respekt der Gesellschaft verdient, und nicht unsere Ignoranz oder unseren Zynismus. Die meisten von ihnen wünschen sich nichts sehnlicher, als eine halbwegs ordentlich bezahlte Arbeit. Wer die nicht hat, hat heute keine Chance. In Ihrem Buch fordern Sie eine Armutspolitik. Wie müsste eine solche Politik aussehen? Niemand kann genau sagen, wie eine solche Armutspolitik im Detail auszusehen hat. Dafür ist das Problem der modernen Armut zu umfassend und zu kompliziert, in politischer, wirtschaftlicher, kultureller, aber auch moralischer Hinsicht. Seine Lösung dürfte Jahrzehnte in Anspruch nehmen. Das geht nicht allein mit Geld - aber auch nicht ohne Geld. Und wir alle müssen aufhören, immer nur Forderungen aus unserer Teilwelt zu stellen. Der eine will mehr Umverteilung, der andere will bessere Schulen, der dritte rät der Unterschicht, einfach mal wieder ein gutes Buch zu lesen und sich ordentlich zu ernähren. Eine intelligente Armutspolitik wird nur als Zusammenspiel von Sozial-, Bildungs- und Gesundheitspolitik funktionieren - nicht gerade eine Stärke deutscher Politik. Und eine Armutspolitik muss vor allem eine Politik des Respekts sein. Ihre zentrale Frage lautet: Wie können Menschen ein sinnvolles Leben führen, auch wenn sie keinen Arbeitsplatz finden? Darauf hat die Gesellschaft bis heute keine Antwort. Einfach Abgehängt von Nadja Klinger und Jens König ist im Rowohlt Verlag erschienen, hat 256 Seiten und kostet 14,90 Euro. Cover: Rowohlt