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"Der Grundgedanke ist doch, dass jeder sein Wissen beisteuern kann"
Ob fürs nächste Uni-Referat oder aus reiner Neugier: Wer sich über ein Thema informieren will, der schaut oft als erstes in der Wikipedia nach. Was in der Online-Enzyklopädie steht, das hat Gewicht. Aus dieser Tatsache kann man auch ein Geschäft machen: Die Firma Sucomo verfasst für Kunden Wikipedia-Beiträge, überwacht die Beiträge und schult gegebenenfalls schon mal Unternehmen darin, wie man in der größten Enzyklopädie der Welt einen Fuß in die Tür bekommt. Wir haben mit Markus Franz, dem geschäftsführenden Gesellschafter der Sucomo OHG, über bezahlte Artikel, Werbung und PR in der Wikipedia gesprochen.
jetzt.de: Herr Franz, wie stark ist man in der Wikipedia Ihrer Meinung nach tatsächlich mit Werbung und PR konfrontiert?
Markus Franz: Beides ist längst Realität, auch wenn es von der Wikimedia Foundation gerne unter den Teppich gekehrt wird. In den letzten Jahren gab es immer wieder Skandale, in denen große und kleine Unternehmen die Wikipedia mehr oder weniger für ihre Zwecke manipuliert haben. Die Dunkelziffer der Fälle, die nicht an die Öffentlichkeit geraten, dürfte daher erschreckend hoch sein. Wikipedia ist für Unternehmen und andere Organisationen eine extrem wichtige Plattform – vor allem, weil sie täglich Millionen von Besuchern anzieht. So hat die Deutsche Bahn beispielsweise nur knapp 22.000 Follower auf Twitter, ihr Artikel in der Wikipedia wurde aber allein im letzten Quartal über 70.000-mal aufgerufen. Die Wikipedia gehört global zu den zehn am häufigsten aufgerufenen Webseiten. Wer es einmal in die Enzyklopädie geschafft hat, bleibt in der rasend schnellen Internet-Community dauerhaft erhalten und gilt als wirklich wichtig.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Markus Franz
Für welche Art Kunden überarbeitet euer Unternehmen Wikipedia-Einträge? Und was unterscheidet euch von Autoren, die sich nur in ihrer Freizeit mit einem Thema beschäftigen?
Die Palette unserer Kunden reicht vom Mittelständler, der gerade so die Relevanz-Kriterien überspringt, bis zum Großkonzern. Die einzige Ausnahme sind städtische Eigenbetriebe. Zum Beispiel haben regionale Tourismus- und Wirtschaftsförderungsgesellschaften oft das Interesse, den Wikipedia-Artikel über ihre Stadt in eine positive Richtung zu verändern. Wer so etwas will, ist bei uns aber an der falschen Adresse. Jeder Auftrag läuft indes anders ab – je nachdem, welches Produkt der Kunde gebucht hat. Wir schreiben und überwachen Artikel oder kommen nur in den Betrieb, um eine Schulung zu machen und etwas über die Funktionsweise der Wikipedia zu erzählen. Natürlich haben wir nicht für jede Branche einen Experten, das ist personell nicht möglich. Die für die Wikipedia nötigen Informationen recherchieren wir aber sehr genau. Vielleicht sogar genauer als mancher Journalist und meiner Meinung nach auch viel genauer als freiwillige Autoren, da wir für unsere Arbeit bezahlt werden und uns die nötige Zeit nehmen können, alle Informationen zusammenzutragen.
Wie ist das Verhältnis der Wikipedia zu bezahlten Autoren? Man hat oft den Eindruck, dass das Geschäft mit den bezahlten Artikeln nicht ganz regelkonform ist.
Keine Richtlinie der Wikipedia verbietet es, sich für Bearbeitungen an einem Artikel bezahlen zu lassen – egal aus welchem Grund auch immer. Wie die Arbeit bezahlter Autoren ankommt, hängt aber immer davon ab, was sie genau in der Wikipedia tun: Wer werblich formulierte Texte einstellt, die eher nach Pressemitteilung als nach Enzyklopädie klingen, wird sicher nicht mit offenen Armen empfangen. Besonders allergisch reagiert die Community natürlich auf solche Benutzer, die unter dem Deckmantel der Anonymität versuchen, Kritik am eigenen Unternehmen abzuschwächen oder ganz aus dem Projekt zu entfernen. Der Eindruck ist also vollkommen falsch.
Wie neutral kann ein bezahlter Artikel über ein Unternehmen, das gleichzeitig auch der Auftraggeber ist, sein? Ich meine, niemand zahlt für schlechte Publicity, oder?
Das ist der Unterschied zwischen sozialen Netzwerken und der Wikipedia: Wo es auf Facebook und Twitter um ein möglichst vorteilhaftes Bild in der Öffentlichkeit geht, ist in Wikipedia alleine schon der Artikel selbst das Ziel. Ein Beitrag mit jeder Menge Kritik ist aus Sicht der meisten Unternehmen allemal besser, als überhaupt nicht in der erfolgreichsten Enzyklopädie aller Zeiten erwähnt zu werden. Zumal viele Firmen sehr gut wissen, an welchen Punkten sie vielleicht Fehler gemacht haben. Außerdem werden in der Wikipedia ja keine neuen Sachverhalte veröffentlicht – es wird nur das an schlechter Publicity gesammelt, was ohnehin schon in Zeitungen und anderen Medien behandelt wurde und damit längst der breiten Öffentlichkeit bekannt ist. Ein bezahlter Autor kann ferner natürlich genauso sachlich oder unsachlich über einen bestimmten Sachverhalt schreiben, wie ein Freiwilliger auch, wenn dieser beispielsweise Fan einer Band ist. Das Großartige an dem Projekt Wikipedia ist ja gerade, dass sich diese unterschiedlichen Interessen der Community ausgleichen und damit allzu negative und allzu positive Inhalte neutralisiert werden.
Inwieweit treten die Sucomo-Mitarbeiter eigentlich transparent in der Wikipedia-Community als bezahlte Autoren auf? Sind sie insbesondere für Wikipedia-Administratoren als solche zu erkennen?
Für den überwiegenden Teil unserer Kunden betreuen wir ein sogenanntes verifiziertes Benutzerprofil. Dieses trägt den Namen des Unternehmens, sodass auch für unerfahrene Personen und nicht nur die Administratoren auf den ersten Blick erkennbar ist, woher die Bearbeitungen kommen. Mittlerweile gibt es über 800 dieser verifizierten Konten in der deutschsprachigen Wikipedia. Darunter Coca-Cola, Microsoft, Deutsche Post, Cinemaxx und Tchibo, um nur einige große Vertreter zu nennen. Allerdings halte ich es nicht für sonderlich gut, wenn die Mitarbeiter eines Unternehmens ihr Konto selbst betreuen – das sollten besser Dritte tun, was jetzt aber nicht unbedingt heißt, dass wir das sein müssen.
Gibt es Firmen, die mit den neutralen Artikeln, die Sucomo nach eigener Aussage ja angeblich anfertigt, nicht zufrieden sind, weil sie sich in einem vorteilhafteren Licht präsentiert sehen wollen?
Und ob. Ich schätze, dass wir mit einem Viertel aller Kunden recht heftige Diskussionen führen. Unser Standpunkt ist: Im Zweifel ist irgendein tolles neues Produkt eben nicht relevant, öffentliche Kritik aber schon und kommt auch so in den Artikel. Leider sehen das manche Kunden genau umgekehrt, sodass wir ihnen dann erklären müssen, dass Wikipedia keine verlängerte Webseite ist, auf der man Informationen im Stil einer Pressemitteilung präsentieren kann. Dabei handelt es sich wie gesagt um eine Minderheit, die manchmal aber schon sehr nervig sein kann.
Nach welchen konkreten Kriterien entscheidet die Wikipedia, ob es sich um Werbung oder bloße PR handelt? Und wie erfolgreich sind Ihrer Meinung nach deren Kontrollmechanismen?
Die Community entlarvt übertriebene Werbung häufig schon anhand der Tatsache, dass sie nicht die offiziellen Relevanz-Kriterien erfüllt. In diesen steht geschrieben, dass zum Beispiel Unternehmen mindestens 100 Millionen Euro Umsatz erwirtschaften oder 1.000 Mitarbeiter beschäftigen müssen, um einen Eintrag in der Wikipedia zu erhalten. Es gibt für jede nur erdenkliche Kleinigkeit eigene Richtlinien – nicht nur für Relevanz, Neutralität und Interessenkonflikte, sondern sogar für Zitate aus der Bibel und dem Koran. Die Kontrolle, ob diese eingehalten werden, funktioniert in der Regel hervorragend. Bei neuen Artikeln, die eindeutig nicht in die Enzyklopädie passen, dauert es nicht einmal eine Stunde bis zur Löschung. Zudem wird jeder Artikel, der in der Wikipedia veröffentlicht wird, von mindestens zwei erfahrenen Benutzern noch einmal kontrolliert. Das ist die größte Stärke des Projekts, aber auch eine große Hürde für neue Autoren.
Die meisten Skandale hingen mit PR-Aktivitäten zusammen. Bekannterweise hat Daimler Passagen zu deren Lobbyarbeit beschönigt und McFit einen Abschnitt gelöscht, in dem es darum ging, dass einige Filialen Menschen mit Migrationshintergrund die Mitgliedschaft vorenthielten. Aber wie sieht es denn mit Produktwerbung aus? Meinen Sie, die Wikimedia Foundation hält hier, was sie verspricht oder sind wir auch damit mehr konfrontiert als wir glauben?
Besonders im Zuge der jährlichen Spendenkampagne wird gerne behauptet, Wikipedia sei vollkommen frei von Werbung und kommerziellen Interessen. Dem ist aber nicht so – jeden Tag werden zahlreiche Texte und Bilder hochgeladen, die pure Werbung darstellen. Dafür gibt es auch Anhaltspunkte. Im Dezember hat beispielsweise eine Mitarbeiterin der DB Autozug GmbH versucht, den Autozug-Artikel in einen schönen Werbeeintrag zu verwandeln. Neben oberflächlichen Informationen zur Geschichte sowie den Linien im Sommerfahrplan wurde auch ein Absatz veröffentlicht, der ganz im Stil eines Prospekts über die "Vorteile einer Autozug-Fahrt" aufklären sollte. Dazu kam eine ganze Reihe von Bildern, die praktisch keinen inhaltlichen Mehrwert bieten und eher glückliche Personen vor einem Logo der Bahn zeigen, als einen Autozug selbst. Der absolut einseitig formulierte Artikel wurde zurückgesetzt, die nichtssagenden Bilder selbstverständlich gelöscht.
Die Wikipedia deckt scheinbar viel auf. Und dennoch glauben Sie, dass die Dunkelziffer hoch ist. Woran machen Sie das aus?
In der Wikipedia gibt es Tausende Artikel über Firmen und ihre Produkte. Alleine in der Kategorie Berliner Unternehmen befinden sich über 250 Beiträge – und da sind die Unterkategorien noch nicht mitgezählt. Wenn nur ein kleiner Teil dieser Betriebe versucht, die Wikipedia für Werbung auszunutzen und es schafft, unter dem Radar der anderen Nutzer hindurch zu kommen, strotzt diese längst vor werblichen Inhalten. Die schiere Masse an Artikeln mit kommerziellem Hintergrund und die stetig sinkende Zahl aktiver Autoren, sorgen für eine gefährliche Mischung, die mittelfristig zu Problemen führt.
Sie glauben also, dass der Wikimedia Foundation gut daran gelegen wäre, mehr bezahlte Autoren und PR-Menschen zuzulassen, um die Qualität zu sichern? Da beißt die Katze sich doch in den Schwanz.
Im Grunde erwarte ich von der Wikimedia Foundation und ihren Chaptern, dass sie genau das tun, was sie immer getan haben: Eingreifen, wenn die Community selbst etwas nicht regeln kann. Der Umgang zwischen Community und Unternehmen ist von einem solchen Misstrauen geprägt, dass es unerfahrenen PR-Leuten fast unmöglich ist, aktiv zu werden. Man denkt gerne zuerst an die schlechten Seiten und Manipulation von Artikeln, als sich über die positiven Seiten bezahlter Autoren Gedanken zu machen. Im letzten Jahr haben die Wikimedia Foundation und ihre Chapter sich verstärkt auf Frauen konzentriert, deren Anteil unter den Autoren immer noch verschwindend gering ist. Es gab zahlreiche Projekte und Aktionen, in denen man der Frage nachgegangen ist, wie mehr Frauen für das Projekt begeistert werden können. Warum geht man nicht einen ähnlichen Weg auch bei Unternehmen?
Weil die Wikipedia damit wirbt, frei von kommerziellen Interessen zu sein. Sobald Unternehmen an den eigenen Inhalten mitwirken, kann man davon ausgehen, dass auch kommerzielle Interessen, aus den von Ihnen genannten Gründen, eine Rolle spielen. Vielleicht wollen die Betreiber also diesen Diskurs gar nicht und lieber an ihren ursprünglichen Grundgedanken festhalten.
Der Grundgedanke der Wikipedia ist doch, dass jeder sein Wissen zum Projekt beisteuern kann, sofern es relevant ist. Nur darum sollte es gehen. Es ist doch vollkommen egal, ob ein Autor einen Artikel schreibt, weil er von seinem Arbeitgeber dafür bezahlt wird oder ob er das rein freiwillig tut. Was zählt, ist das Ergebnis und dass es allen Richtlinien der Enzyklopädie entspricht. Und genau an diesem Punkt kommen Dienstleister wie wir ins Spiel, die sich als unabhängiger Vermittler zwischen den Interessen von Unternehmen und der Enzyklopädie verstehen. Sicher ist das nicht die beste Lösung. Lieber wäre es mir eigentlich, dass Unternehmen es in jedem Fall unterlassen, Werbung in der Wikipedia zu machen oder Kritik zu löschen und sich nur um den inhaltlichen Mehrwert kümmern. Und sich natürlich auch Teile der Community etwas mehr Mühe geben, bezahlte Autoren nicht vorab zu verurteilen.
Das klingt etwas pathetisch. Was lassen es sich Ihre Kunden im Schnitt kosten, um einen Platz unter den wirklich Wichtigen zu bekommen?
Das hängt sehr davon ab, was wir für einen Kunden genau machen. Manchmal wollen unsere Kunden, dass wir einen kompletten Artikel verfassen, und manchmal auch nur, dass wir sie über Bearbeitungen an ihrem bereits eingestellten Artikel informieren, ohne diese selbst in irgendeiner Form zu verändern. Unsere Leistungen werden nach Aufwand kalkuliert und nicht nach dem Ergebnis. Das heißt, wir nehmen Stunden- und Tagessätze, wie es jede andere Social-Media-Agentur auch tut, die für ihre Kunden die Präsenz auf Facebook oder Twitter betreut. Eine durchschnittliche Summe möchte ich aber nicht nennen.
Glauben Sie, dass die Wikimedia Foundation sich eines Tages kommerziellen Interessen öffnen wird?
Es gibt ja schon einige deutliche Anzeichen, dass man sich verstärkt um bezahlte Autoren kümmert. Das beste Beispiel ist wohl "Wikipedian in Residence". Auch wenn es dazu unterschiedliche Meinungen gibt. Im Rahmen des Programms werden Wikipedianer von Wikimedia finanziell gefördert, um Mitarbeitern von Bibliotheken und Archiven zu helfen, sich an der Wikipedia zu beteiligen. Dabei handelt es sich zwar um öffentliche Einrichtungen, ihr Interesse ist es meiner Meinung nach aber nicht nur, Inhalte einfach so bereitzustellen, sondern natürlich auch, durch die Kooperation ein positives Bild zu hinterlassen und sich gegenüber anderen Einrichtungen abzuheben. Klassische PR also. Außerdem läuft im Moment eine Anhörung der Community, die sich zu neuen Richtlinien für Interessenkonflikte der Wikimedia Foundation äußern soll. Dabei geht es konkret darum, ob Vertreter der Wikimedia Foundation kommerzielle Interessen unter welchen Umständen offen legen müssen, von wem sie Geschenke wann annehmen dürfen und wann ablehnen müssen und ob die Vereine zum Beispiel einen Auftrag an eine Firma vergeben dürfen, an der ein Mitarbeiter der Führungsriegen von Wikimedia beteiligt ist. Ich denke, das zeigt ganz gut, welche kommerziellen Interessen an die Organisation und das Projekt Wikipedia herangetragen werden.
Anmerkung von Andreas Weck: Vor Veröffentlichung des Interviews habe ich der Wikimedia Deutschland e.V. mit der Anfrage zu einem separaten Interview die Möglichkeit gegeben, sich zu den Aussagen von Herrn Franz zu äußern. Nachdem die Pressestelle mir das Interview zugesagt hat und ich meine Fragen an den jeweiligen Pressesprecher übermittelt habe, ist das Interview schlussendlich doch abgesagt wurden. Die Wikimedia Deutschland e.V. bot mir aber an, das Gespräch zu einem späteren Zeitpunkt nachzuholen.