Süddeutsche Zeitung

Unsere Kernprodukte

Im Fokus

Partnerangebote

Möchten Sie in unseren Produkten und Services Anzeigen inserieren oder verwalten?

Anzeige inserieren

Möchten Sie unsere Texte nach­drucken, ver­vielfältigen oder öffent­lich zugänglich machen?

Nutzungsrechte erwerben

Das Paradies wird produziert

Teile diesen Beitrag mit Anderen:

In deinem Buch „Abschalten“ beschäftigst du dich mit Paradiesproduktion, Massentourismus und Globalisierung. Warum gerade dieses Thema? Jeder hat eine Vorstellung vom Paradies im Kopf, das beginnt schon in der Kindheit. Das sind schöne Bilder von exotischen Schauplätzen auf Postkarten oder in Bildbänden. Es gibt Filme wie [i]Hatari[/i] oder die [i]Brücke am Kwai[/i], die ein großes Repertoire an Bildern vom Urwald und unberührter Natur haben. Filme, mit denen ich und viele andere aufgewachsen sind. Romane wie Robinson Crusoe, Zeitschriften wie Geo oder Merian aber auch Musikclips beeinflussen unsere Vorstellung vom Paradies. Das fand ich sehr interessant und das ist auch der Ausgangspunkt von meinem Buch. Ich frage: was hat es mit diesem Bild auf sich? Stimmt es mit der Realität vor Ort überein? Du sagst, dass das Paradies produziert wird. Was kann man sich darunter vorstellen? Man reist an einen Ort, an den man immer schon mal wollte und stellt auf einmal fest, dass das alles irgendwie anders aussieht, als man sich es vorgestellt hat. Dieser Ort ist nicht ansatzweise so unberührt, wie man sich das ausgemalt hat. Man findet einen Ort vor, der schon unglaublich stark in die ganzen kapitalistischen Verwertungszusammenhänge integriert ist. Alle Annehmlichkeiten in diesem Paradies werden kaufhausmäßig aufbereitet: Bars, Animateure usw. Alles ist wahnsinnig durchorganisiert. Das funktioniert wie Kino. Oder wie das Holodeck im Raumschiff Enterprise! Genau, die Inszenierung einer Illusion. Und da ist man natürlich erstmal enttäuscht. In meinem Buch geht es aber nicht nur darum, diese Desillusionierung nachzuzeichnen und daraufhin eine Entmystifizierung des Paradieses vorzunehmen. Vielmehr ist das der Ausgangspunkt dafür, ein zeitgemäßes Paradiesbild zu entwerfen. Es ist halt eine Tatsache, dass das Paradies produziert wird. Damit müssen wir leben. Aber wir müssen uns auch fragen, wer die harten Geschäfte vor Ort macht, wer das Paradies produziert. Anders als die europäische Expansion ist die Globalisierung ein zirkulärer Prozess. Funktioniert die Paradiesproduktion auch für Menschen, die auf Europa schauen? Ich habe bewusst eine eurozentrische Perspektive gewählt. Klar ist die Globalisierung ein Prozess, der nicht nur von Europa ausgeht. Spätestens seitdem die ehemaligen Kolonisierten ihren Blick auf Europa richten, sehen wir uns mit dem Umstand konfrontiert, dass Europa selbst zu einem Zielort auf der Suche nach dem Paradies geworden ist. Das gilt für Migranten genauso wie für Touristen, die nach Europa kommen. Ich arbeite ganz bewusst mit einem Begriff von Globalisierung, der in erster Linie als ein europäischer Expansionsprozess verstanden wird. Aber diese Expansion ist doch längst abgeschlossen. Trotzdem wird suggeriert, dass da immer noch etwas ist, das noch unberührt ist. Das ist paradox. Und damit beginnt eine ganz neue Phase der Globalisierung. Eine Phase, in der das „Außen“ immer noch existiert, allerdings nur, weil es mit großem Aufwand produziert wird. Das Paradies spielt hier eine wichtige Rolle, weil es früher tatsächlich ein unerschlossener Ort war, und heute ein Ort ist, an dem das Unerschlossene als Illusion aufrechterhalten wird. Bei dieser Produktion spielt nicht nur der Tourismus eine Rolle. Was denn noch? Der Tourismus ist zwar als zweitgrößte Branche der Welt ein sehr wichtiger Akteur der Globalisierung, aber eben nicht die einzige Macht, die das Paradies produziert. Es gibt ein Zusammenspiel von unterschiedlichen Akteuren. Ich stelle in meinem Buch fünf verschiedene Orte und somit auch fünf Koproduktionen vor. Ich zeige das Paradies als Produkt einer Koproduktion von Tourismus und Hippiekultur, Tourismus und Hollywood, Tourismus und Umweltschutzbewegung, Tourismus und Geopolitik/Medien und im letzten Kapitel Tourismus und Militär.


Warum hast du eigentlich nicht prototypische Paradiese des Massentourismus untersuchst, sondern Orte, die an den Rändern dieser Industrie liegen? Mir geht es um Orte, an denen die Industrie zwar schon da ist, aber noch nicht so massiv. Ist dort die Paradiesproduktion schon im vollen Gange oder noch nicht? Man kann es auf den ersten Blick nicht so genau sagen. Dort kann die Idee des „Außen“ sinnhaft in Szene gesetzt werden, weil es einen halbwegs soliden Boden für Illusionen dieser Art gibt. Widersprüche, die bei der Paradiesproduktion zu Tage treten, zeichnen sich dort noch nicht so markant ab oder sie haben noch keinen Namen. Das sind Orte des Umbruchs und des Übergangs. Man kann dort viel über die Globalisierung lernen. Ein ganz persönlicher Grund ist vielleicht, dass mich Orte einfach mehr interessieren, die noch nicht massenhaft bereist werden. Erzählen diese Orte andere Geschichten als die Zentren des Massentourismus? Wenn du zum Beispiel nach Paris reist, dann wäre dir von Vornherein klar, dass dort nicht alles perfekt ist. Neben den Attraktionen gibt es Stadtteile im Ausnahmezustand, brennende Autos, etc. In Bora Bora dagegen musst Du nach Widersprüchen förmlich suchen. Ein Weg, der hinter die Oberfläche führt und rein in die Geschichte des Ortes. Dort wurden schon zahlreiche Filme gedreht, etwa „The Hurricane“, ein Blockbuster seinerzeit. Dieser Film wird benutzt, um den Ort als Paradies zu bewerben – aber was passiert eigentlich an einem Drehort während der Vorbereitung und der Durchführung? Das ist ja ein Prozess, der die vermeintlich unberührte Landschaft grobschlächtig zerstört. Nach der Verwüstung wird dann das touristische Paradies aufgebaut. Das sind Geschichten, die sich zwischen Schönheit und Zerstörung, zwischen dem Werbeimage und dem was sich dahinter verbirgt, bewegen. Das gehört aber eben auch zu diesem Ort. Das klingt natürlich brutal, aber zu der Erfahrung des Paradieses gehört nun mal auch das Paradoxe und die „hässliche Seite“. Ich will das Paradies vor diesem Hintergrund noch einmal neu definieren, als einen Schauplatz, der nicht nur eine perfekte Gegenwelt zum Alltag darstellt, sondern einen Ort der Widersprüche, einen Ort der Kämpfe, der Konflikte und der Probleme. Als einen Ort eben, an den man nicht vor der Realität flieht, sondern an dem man die Realität wie unter einem Vergrößerungsglas erlebt. Könnte ich anstatt meines „Lonely Planets“ auch dein Buch in meinen Rucksack packen und mich auf den Weg machen? Und mit welchem Ort sollte ich da am besten anfangen? Ja, das könntest Du machen, weil jedes Kapitel wie eine Reise aufgebaut ist, mit recht genauen Angaben darüber wie man hinkommt und so. Eigentlich müsste die Antwort aber zweiteilig sein, wie auch das Reisen ein zweigleisiges Unterfangen ist: Reisen ist für mich nicht nur das physische Reisen an einen Ort, sondern auch das mentale Reisen. Der Titel „Abschalten“ bezieht sich nicht nur darauf, dass wir irgendwo hinfahren und dort „abschalten“. Wir sind auch schon Zuhause dieser Bewusstseinsindustrie ausgesetzt. Kannst Du ein Beispiel geben? Nehmen wir das Darién Gap, der Dschungel zwischen Panama und Kolumbien. Dieser Ort hat eine mythische Funktion in der Geschichte des Reisens. In den 1980ern war er der Mount Everest des Rucksacktourismus. Ein unglaublich prächtiger Dschungel und die einzige Lücke im Pan American Highway, der Alaska mit Feuerland verbindet. Und so gibt es zahlreiche Bilder von diesem Ort, die von Romanen, Reiseberichten, Filmen, Dokus usw. hervorgebracht worden sind. Bilder, die unsere Vorstellung gefangen nehmen und uns gewissermaßen entführen: In Brad Andersons Film „The Darien Gap“ etwa, scheitern junge Leute aus den USA auf dem Weg nach Patagonien an diesem unüberwindbaren Verkehrshindernis. Auch das Internet dokumentiert das Scheitern jener Aussteiger, die versucht haben, diesen Dschungel zu durchqueren. Es gibt auch eine Reihe von Entführungsgeschichten. Die Bilder, die uns zu Hause erreichen, sind nicht zuletzt so wirkungsvoll, weil sie mit der Situation vor Ort korrespondieren: Auf der einen Seite ist das Darién Gap eine Lücke, die geschlossen werden soll, auf der anderen Seite gibt es Akteure, die das verhindern, zum Beispiel Rebellen oder Umweltschützer. So bleibt dieser Ort wohl vorerst ein „Außen“.

Default Bild

„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Krystian Woznicki arbeitete in den Neunzigern als Kolumnist der Japan Times und als Korrespondent der Spex in Tokio. Heute lebt er als Kulturkritiker in Berlin. Sein Buch „Abschalten. Paradiesproduktion, Massentourismus und Globalisierung.“ ist im Kulturverlag Kadmos erschienen und kann bestellt werden.

Text: magdalena-taube - und dominikus-müller

  • teilen
  • schließen